Der mit dem Wolf blickt

Tiere folgen den Blicken ihrer Artgenossen und erhalten dadurch Informationen, die für soziale Interaktionen oder ihr Überleben wichtig sind. Doch nur wenige Arten, wie zum Beispiel Menschenaffen oder Raben, besitzen die kognitiven Fähigkeiten, gezielt eine Barriere zu umrunden, um nachzuschauen, was ein Artgenosse dahinter erblickt hat. Dass auch Wölfe das können, weisen die Kognitionsbiologinnen Friederike Range und Zsofia Viranyi in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift PLoS ONE nach.

Wohin schaust du? Was siehst du? Aus der Blickrichtung eines Partners und dem, was er sieht, kann ein Tier oft dessen nächste Handlung ableiten und entsprechend reagieren. Hier unterscheiden ForscherInnen zwischen dem Folgen eines Blickes in die Ferne und dem Folgen des Blickes um eine Barriere herum.

In die Ferne schweifen ...

"Folgt ein Tier dem Blick in die Ferne, so ist das ein relativ einfacher kognitiver Mechanismus – wahrscheinlich eine angeborene Prädisposition, sich mit anderen zu orientieren, die durch assoziatives Lernen verstärkt wird. Dementsprechend können das viele verschiedene Tierarten", erklärt Friederike Range vom Department für Kognitionsbiologie und dem Wolf Science Center.

... und Barrieren überwinden

Nur wenige Tierarten beherrschen jedoch das Folgen des Blickes um eine Barriere herum; nachgewiesen ist diese Fähigkeit bislang lediglich bei Raben, Menschenaffen und einigen wenigen anderen Affenarten. "Das Tier muss in diesem Fall erst um eine Barriere herumgehen, um zu sehen, wo der Partner auf der anderen Seite hingeschaut hat. Dies ist kognitiv sehr viel komplexer", sagt Zsofia Viranyi, die gemeinsam mit ihrer Kollegin Friederike Range das Wolf Science Center im niederösterreichischen Ernstbrunn initiiert hat. Dort untersuchen die beiden Wissenschafterinnen nun das Blickverhalten von Wölfen.

Kooperative Wölfe

"Die Fähigkeit des Blickes um eine Barriere wird insbesondere kompetitiven oder kooperativen Tierarten nachgesagt. Wölfe stehen hierfür geradezu prototypisch: Sie ziehen den Nachwuchs gemeinsam auf, jagen gemeinsam und verteidigen ihr Revier gemeinsam", erklären die Forscherinnen.

In einer aktuellen Veröffentlichung im Fachjournal PLoS ONE bestätigen Range und Viranyi: "Unsere neun Wölfe folgten dem Blick von Menschen in die Ferne bereits nach 14 Wochen. Nach sechs Monaten folgten sie dem Blick sowohl von Artgenossen als auch von Menschen um eine Barriere herum."

Unterschiedliche Mechanismen

Mehrere Untersuchungen lassen vermuten, dass dem Folgen eines Blickes in die Ferne und um Barrieren herum unterschiedliche kognitive Mechanismen zugrunde liegen. Die Ergebnisse der Wolfstudie unterstützen diese Theorie: "Wölfe folgen dem Blick anderer erst drei Monate später um die Barriere herum als in die Ferne. Außerdem haben sie nach ein- oder zweimaligem Wiederholen des Blickes im Falle der Barriere aufgehört, die andere Seite genauer zu betrachten. Allerdings, wenn ein Demonstrator wiederholt in die Ferne blickte, haben die Wölfe immer wieder geschaut, ob doch etwas zu sehen ist – auch nach zehn Wiederholungen", beschreibt Range.

Untersuchungen über den Einblick eines Tieres in die geistige Welt eines Artgenossen zählen zu den großen Themen der Kognitionswissenschaft. "Das Folgen des Blickes eines Artgenossen ist ein erster Schritt zu einer 'Theorie des Geistes', also der Erkenntnis eines Tieres, dass Artgenossen auch ein bestimmtes Wissen haben und Intentionen, die sich von den eigenen unterscheiden", so die beiden Forscherinnen.

Über das Wolf Science Center

Das Wolf Science Center (WSC) wurde als Verein von Friederike Range und Zsófia Virányi vom Department für Kognitionsbiologie sowie Kurt Kotrschal vom Department für Verhaltensbiologie der Universität Wien gegründet – WissenschafterInnen mit jahrelanger Erfahrung in Verhaltens- und Kognitionsforschung an Affen, Hunden, Vögeln und Wölfen. Sie forschen zu den geistigen Leistungen und der Kooperationsfähigkeit von Wölfen und Hunden in einem weltweit einzigartigen Zentrum mit neuen wissenschaftlichen Ansätzen und ausgezeichneter Tierhaltung. (vs)

Das Paper Development of gaze following abilities in wolves (Canis lupus) (Autorinnen: Friederike Range, Zsofia Viranyi) erschien am 24. Februar 2011 im Fachjournal PLoS ONE.