Der Höhlenbär aus dem Reich der Fanes

In der sagenumwobenen Dolomitenwelt – wo das Volk der Fanes bei den Murmeltieren auf die verheißene Zeit wartet und Königstochter Dolasilla thront – befindet sich auf 2.800 Metern Seehöhe die Conturines-Höhle. Dort hat vor beinahe 25 Jahren ein Mineraliensammler eine folgenreiche Entdeckung gemacht, die sich später als wirkliche Sensation präsentierte: eine bisher unbekannte, prähistorische Höhlenbärenart. Der Anthropologe Gernot Rabeder und sein Team haben in jahrzehntelangen Grabungsarbeiten viele spannende Forschungsergebnisse zu Tage gebracht, welche nun den Hauptbestand des kürzlich in Südtirol eröffneten "Museum Ladin Ursus ladinicus" bilden.

Im September 1987 machte sich ein Hotelier aus Alta Badia in Südtirol auf die Suche nach Mineralien. In der Conturines-Höhle oberhalb der Fanes-Alm entdeckte er jedoch statt Edelsteinen einen Haufen durcheinandergewürfelter Schädel und Skelette. Nicht ahnend, dass es sich dabei um etwas anderes als normale Braunbären handeln könnte, erzählte er von seinem Fund. "Just zu jener Zeit, als das Denkmalamt Bozen von der Sache Wind bekommen hatte, hielt ich in Innsbruck einen Vortrag und wurde von den italienischen Beamten als Experte hinzugezogen", erinnert sich Gernot Rabeder vom Department für Paläontologie an die Anfänge.

In Kälte und Eis


Kurze Zeit später begann Rabeder zusammen mit einer Gruppe von 15 Studierenden mit den Grabungs- und Forschungsarbeiten in der 2.800 Meter hoch gelegenen Höhle. "Zunächst übernachteten wir – zum Teil bei Minustemperaturen – jeweils eine Woche lang in einem Biwak-Zelt im Eingangsbereich der Höhle, da ein tägliches Hinaufwandern zu aufwändig, ein täglicher Hubschrauberflug hingegen zu kostspielig gewesen wäre", beschreibt Rabeder (re. im Bild bei Forschungsarbeiten) die beschwerlichen Arbeitsbedingungen.
In der Meinung, es handle sich bei den Fossilien um eine bereits bekannte prähistorische Höhlenbärenart, lag der wissenschaftliche Fokus zunächst auf den – für hochalpine Höhlen ungewöhnlich großen – Tropfsteinfiguren.

Der dritten Art

Mit der Entwicklung der DNA-Analyse kam dann die Sensation: "Das Institut für evolutionäre Anthropologie am Max Planck Institut in Leipzig hat mit dem neuen Hochdruckverfahren für eine große Überraschung gesorgt", erinnert sich der Forscher. Laut DNA handelte es sich beim Südtiroler Conturines-Bären weder um einen Ursus ingressus noch um einen Ursus eremus – ersterer wurde in der Gamssulzen-Höhle und der zweite in der Ramesch-Höhle im Toten Gebirge gefunden – sondern um eine neue, dritte Art, die zeitgleich mit den anderen beiden Höhlenbärenarten in einer Warmzeit des Eiszeitalters lebte. "Aufgrund des Fundorts im ladinischsprachigen Gadertal gaben wir der neuen Art den Namen Ursus ladinicus", erklärt der Paläontologe.

Neuschreibung der Klimageschichte

Die Gegend rund um die Höhle ist heute unwirtlich: vollkommen vegetationslos zwischen Fels, Schnee und Eis – also nicht die ideale Umgebung für einen Pflanzenfresser. Die Tatsache, dass es sich um die bisher höchst gelegene Fundstelle eines Höhlenbären – und eines Höhlenlöwen – handelt, ist vor allem für die Klimageschichte der Dolomiten von großer Bedeutung. "Als Lehrmeinung galt bisher, dass es in der Mittelwürm-Warmzeit zwar wärmer als zur Hauptvereisung, aber nicht so warm wie heute war", erklärt Rabeder, der in diesem Fund nun den eindeutigen Beweis dafür sieht, dass die Temperaturen damals bei weitem höher waren als bisher angenommen. Zur Zeit der prähistorischen Höhlenbären – vor 60.000 bis 30.000 Jahren – gab es anscheinend auf 2.800 Metern Vegetation, weshalb die Baumgrenze wahrscheinlich mehrere hundert Meter sowie die mittlere Jahrestemperatur um etliche Grade höher waren als heute.

Kletter-Bär

Über DNA-Analysen hat der Höhlenbär-Forscher den Ursus ladinicus nun auch in tieferen Lagen entdeckt: "Es war eine Überraschung, als wir dieselbe Art in Slowenien auf 250 Metern Seehöhe gefunden haben. Dort weist der Bär jedoch eine normale Größe auf". Höhlenbären passen sich nämlich an die jeweiligen Klimabedingungen an: Je höher sie leben, desto kleiner sind sie von  Wuchs – klein deswegen, weil die Bären im Hochgebirge eine kürzere Fress- und somit Wachstumsphase haben.



Schädel und Zähne des Ursus ladinicus (Foto: Universität Wien)



Trotzdem beschreibt Rabeder den Conturines-Bär als wesentlich größer als den Braunbären: "Sein mächtiger Schädel ist damit zu erklären, dass er als reiner Pflanzenfresser mehr Muskelmasse zum Zermahlen der Pflanzen benötigte." Innerhalb der Gruppe der Höhlenbären war der Ursus ladinicus aber der schlankste: Schließlich musste er sich im felsigem Gebirge als guter Kletterer beweisen.

Museum Ursus ladinicus

Die Einzigartigkeit der hochalpinen Tropfstein-Höhle – sie war wahrscheinlich bis zum Jahre 1900 vereist und danach abseits der Wanderwege lange Zeit unberührt geblieben – und des Fundes selbst haben Rabeder dazu veranlasst, sich für die Errichtung eines eigenen Museums zu engagieren und sich bei dessen Planung zu beteiligen: Das "Museum Ladin Ursus ladinicus" mit Blick auf die Conturines öffnete im Sommer 2011 in St. Kassian in Alta Badia seine Tore. (ps)

Emer. O. Univ.-Prof. Mag. Dr. Gernot Rabeder vom Department für Paläontologie leitete von 1988 bis 2001 die Grabungsarbeiten in der Conturines-Höhle in den Dolomiten, veröffentlichte in der Folge verschiedenen Publikationen zum Ursus ladinicus und der Conturines-Höhle und war maßgeblich an der Planung und Eröffnung des neuen "Museums Ladin Ursus ladinicus" in St. Kassian/Alta Badia beteiligt.