Das europäische Hin- und Herziehen

Mobilität ist ein wichtiger Eckpfeiler der europäischen Integration. Wie sich Migrationsströme innerhalb der EU auswirken und diskutiert werden, erforscht aktuell ein Team um Kommunikationswissenschafter Hajo Boomgaarden von der Uni Wien im interdisziplinären EU-Projekt "REMINDER".

Von Frankreich nach Österreich und anschließend nach Italien, nicht zum Urlaub machen, sondern zum Arbeiten – die Freizügigkeit von Personen ist eine der wichtigsten Errungenschaften der europäischen Integration. Wie diese Migrationsströme innerhalb der EU funktionieren und welche Auswirkungen sie auf einzelne Länder haben, untersucht das EU-Projekt "Reminder – Role of European Mobility and its Impacts in Narratives, Debates and EU Reforms".

14 europäische Forschungseinrichtungen arbeiten gemeinsam daran, Migration und Mobilität besser zu verstehen. Die Universität Wien ist mit einem Team unter der Leitung von Kommunikationswissenschafter Hajo Boomgaarden, Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät, vertreten.

Die Realität von Mobilität

Zum einen steht bei dem Projekt die reale politische und wirtschaftliche Lage im Zentrum des Forschungsinteresses, zum anderen untersuchen die WissenschafterInnen auch die Wahrnehmung in der Bevölkerung sowie die mediale Berichterstattung. "Wie über das Thema Mobilität innerhalb von Europa gesprochen wird, beeinflusst, welche Mobilitätsströme von Medien und Politik thematisiert werden", so Boomgaarden. So werden z.B. deutsche StaatsbürgerInnen, die nach Österreich migrieren, in Medien eher weniger problematisiert als etwa bulgarische oder rumänische ArbeitnehmerInnen. Aber wie wird das Thema in Bulgarien oder Rumänien diskutiert? Den diskursiven Mustern und den Gründen dafür gehen die WissenschafterInnen mit umfassenden, computergestützten Datenanalysen auf den Grund.


Am 14. Jänner 2019 findet die Abschlussveranstaltung zur aktuellen Semesterfrage im Audimax statt. Nach einem Impulsreferat von Franz Vranitzky, österreichischer Bundeskanzler 1986-1997, zum Thema "Was eint Europa?" diskutieren mit ihm am Podium Sylvia Hartleif vom Europäischen Zentrum für politische Strategie, die österreichische Schriftstellerin Maja Haderlap, EU-Aktivistin und Studentin Nini Tsiklauri sowie seitens der Universität Wien Gerda Falkner vom Institut für Europäische Integrationsforschung und Martin Kocher vom Institut für Volkswirtschaftslehre. Moderiert wird der Abend von "DerStandard"-Chefredakteur Martin Kotynek.

Vielfältige Perspektiven

Das Projekt ist interdisziplinär angelegt: MigrationsforscherInnen, Politik-, Wirtschafts- und KommunikationswissenschafterInnen arbeiten in zwölf Arbeitspaketen an diversen Problemstellungen rund um das Thema Intra-EU-Mobilität, wie die Migration innerhalb Europas bezeichnet wird. Die Forschung reicht von wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Weg- und Zuzugsländer bis hin zur medialen Erzählung. "Aus gesellschaftspolitischer Sicht ist es ideal, in größeren Forschungsverbänden zu arbeiten, weil wir so die Thematik aus verschiedenen Perspektiven heraus bearbeiten können", freut sich Boomgaarden, der mit seinem Team an drei von insgesamt zwölf Arbeitspaketen beteiligt ist.

Medien und Migration
 
Ein Arbeitspaket, das Boomgaarden und sein Team leiten, fragt nach den Erzählstrukturen von Medien beim Thema Migration. Die WissenschafterInnen vergleichen dazu die Medienberichterstattung der letzten 20 Jahre in sieben EU-Ländern: Deutschland, Großbritannien, Schweden, Spanien, Polen, Rumänien und Ungarn. "Wir möchten herausfinden, ob die Entwicklung der Berichterstattung mit bestimmten Ereignissen zusammenhängt", erklärt Boomgaarden: "Nach der EU-Osterweiterung ist der Diskurs zur Personenfreizügigkeit in osteuropäischen Ländern beispielsweise deutlich positiver als in westeuropäischen." Länder, aus denen Menschen wegziehen, scheinen diese Möglichkeit erst einmal positiv darzustellen, wobei die Konsequenzen für sie nicht per se positiv sind.

"Ein Interesse des Projekts bezieht sich auf nationale und temporale Variationen in den Interpretationsmustern der Berichterstattung über Migration und Mobilität", erzählt Boomgaarden. "Die Medienberichterstattung zu Flüchtlingen und Asyl orientierte sich in den untersuchten Ländern 2015 und 2016 stark an nationalen Ereignissen und politischen Diskursen. Greift man Ergebnisse für einzelne Länder heraus, zeigt sich zum Beispiel, dass spanische Nachrichten einen besonderen Fokus auf die europäische Dimension der Flüchtlingspolitik legten. In Ungarn wurde das Thema häufig in Bezug auf Ländergrenzen diskutiert.

Hajo Boomgaarden zur aktuellen Semesterfrage "Was eint Europa?": "Dass wir uns der Unterschiede in Europa bewusst sind, darüber aber die Gemeinsamkeiten nicht vergessen, uns immer wieder unserer Geschichte erinnern und eine gemeinsame Zukunft vor Augen haben. Dass wir Grenzen überschreiten wollen, nicht nur geographische, sondern auch kulturelle und intellektuelle, dabei Toleranz gegenüber der Vielfalt an Meinungen zeigen und gleichzeitig darauf bestehen, gemeinsame Werte wie Mitmenschlichkeit, Menschenwürde und Rücksicht zu verteidigen." (© Universität Wien/Barbara Mair)

Öffentlicher Diskurs

Doch nicht nur Medien prägen, wie Migration in einem Land erlebt wird. Ein weiteres Arbeitspaket beschäftigt sich mit der öffentlichen Meinung. Um diese zu erfassen, führt Boomgaarden in enger Zusammenarbeit mit der Universität Mainz in den oben genannten sieben Ländern Umfragen durch. Dabei geht es vor allem darum, Meinungen und Einstellungen zur Personenfreizügigkeit innerhalb der EU, aber auch zu Migration allgemein zu erheben. Das Ziel ist, am Ende beide Datensätze zusammenzuführen, um so auch einen möglichen Zusammenhang zwischen Medienberichterstattung und öffentlicher Meinung untersuchen zu können.

Eines haben die WissenschafterInnen bereits herausgefunden: Was Medien berichten und was die Bevölkerung denkt, muss nicht zwingend ein vollständiges Bild der Realität abgeben. "KollegInnen im Projekt haben herausgefunden, dass Migration positive Effekte auf die Wirtschaft der Zielländer hat. Wir beziehen solche Informationen gleich in unsere Umfragen mit ein und gehen der Frage nach, warum Informationen wie diese nicht Teil des Diskurses sind", erklärt Boomgaarden.

Viele Stränge, ein Ziel

"Innerhalb des Projekts herrscht Konsens darüber, dass die Personenfreizügigkeit wichtig ist und dass wir mit dem Projekt dazu beitragen möchten, einen fairen Diskurs über die Personenfreizügigkeit zu fördern", steckt Boomgaarden die Projektziele fest. Die große Herausforderung sei es, am Ende die vielen einzelnen inhaltlichen Stränge wieder zu einem großen Ganzen zusammenzufügen. Bei den erhobeneren Daten ist das bereits garantiert: Die Datensätze aus allen Arbeitspaketen werden am Ende gesammelt im Austrian Social Science Data Archive veröffentlicht, um sie so auch für andere ForscherInnen nutzbar zu machen. (pp)

Das EU-Projekt "REMINDER – Role of European Mobility and its impacts in Narratives, Debates and EU Reforms" unter Beteiligung von Univ.-Prof. Hajo Boomgaarden, PhD, Dr. Jakob-Moritz Eberl, BA MA, Mag. Tobias Heidenreich, Bakk. und Fabienne Lind, M.Sc. BSc. vom Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaften der Universität Wien läuft von 2017 bis 2020 und wird durch Horizon 2020, das Förderungsprogramm für Forschung und Innovation der Europäischen Union, gefördert.