Braune Justiz

Waren die Richter am Wiener Landgericht ab 1938 bloße Marionetten? Oder haben sie eine gewisse "juristische Routine" beibehalten? In einem FWF-Projekt haben sich Rechtshistoriker Franz-Stefan Meissel und seine ProjektmitarbeiterInnen privatrechtliche Urteile im Nationalsozialismus angeschaut.

55.823 Prozessakten des Landgerichts Wien lagen – gestapelt in unzähligen Kartons – rund 68 Jahre lang unbeachtet im Wiener Stadt- und Landesarchiv. Darin enthalten: Urteile zum österreichischen Privatrecht aus der Zeit zwischen 1938 und 1945. 2013 machten sich Franz-Stefan Meissel und sein Team vom Institut für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte im Rahmen eines FWF-Projekts daran, die wertvolle Quelle aufzuarbeiten.

"Das Interesse von Historikern konzentrierte sich lange Zeit vor allem auf die Gräuel der nationalsozialistischen Strafrechtsjustiz, hier waren die Urteile spektakulärer. Zivilrechtliche Materie ist dagegen sehr technisch und erfordert eine Menge an juristischem Know-how", erklärt Rechtshistoriker und Projektleiter Franz-Stefan Meissel. Wie sah die Ideologisierung und Indienstnahme der Privatrechtsjustiz durch das NS-Regime aus? Wie unabhängig konnten die Richter bei der Entscheidungsfindung sein? War es möglich, eine gewisse "richterliche Routine" beizubehalten?

Das Projektteam vom Institut für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte (v.l.n.r.): Benjamin Bukor, Stefan Potschka, Stephanie Hanel, Franz-Stefan Meissel, Lilly Leitner, Stefan Wedrac und Victoria Stickelberger. (Foto: Privat)

55.823 Prozesse, eine Datenbank

Im Rahmen der systematischen Sichtung des umfangreichen Aktenmaterials erstellten die ForscherInnen eine Datenbank, die im März 2017 online gehen wird und zukünftige Forschung vereinfachen soll. Zwar ist der Bestand im Wiener Stadt- und Landesarchiv nicht mehr lückenlos erhalten, da im Laufe der Zeit alte Akten routinemäßig vernichtet wurden, aber es zeigt sich ein repräsentativer Ausschnitt für die österreichische Zivilgerichtsbarkeit im Nationalsozialismus.

40.443 Prozesse betrafen das Familienrecht, wobei das Eherecht mit 37.560 Akten hervorsticht. Hier ging es zum Beispiel um die Aufhebung sogenannter "Rassemischehen", also Ehen, bei denen eine Person nach dem Reichsbürgergesetz (RBG) "jüdisch" und die andere "arisch" war. "Anhand der Scheidungsakten zeigt sich, dass überwiegend jüdische Männer ihren nichtjüdischen Frauen die Scheidung ermöglichen wollten, um sie von dem 'Makel', mit einem Juden verheiratet zu sein, zu befreien. Die jüdischen Männer verloren dann allerdings den gewissen Schutz, den eine 'Rassemischehe' bot", erzählt der Rechtshistoriker.

2.350 Akten im Archiv stammen z.B. von Prozessen zum Abstammungsrecht, in denen es meistens darum ging, die "arische" Abstammung feststellen zu lassen, um Diskriminierungen und Verfolgung zu entgehen. Ebenfalls in der Datenbank erfasst haben die WissenschafterInnen die Namen der Richter und Anwälte, ob eine Partei einer verfolgten Personengruppe angehörte, Parteigenosse oder Funktionär war. "6.032 der 55.823 Akten betrafen Verfahren, bei denen mindestens einer der Prozessbeteiligten im Sinne der NS-Rassenideologie 'jüdisch' war", berichtet Franz-Stefan Meissel.

Veranstaltungstipp:
Tagung "Zivilgerichtsbarkeit im Nationalsozialismus"
Freitag, 3. März
Institut für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte der Universität Wien
Schenkenstraße 8-10, 1010 Wien
Programm
(Foto: Berliner Volksgerichtshof, 20. Juli 1944. Bundesarchiv, Bild 151-39-23/CC-BY-SA 3.0)

Wie wurde argumentiert?

Ist allein schon die Sichtung von über 55.000 mal dünneren, mal dickeren Akten ein akribisches und zeitintensives Unterfangen, gingen die WissenschafterInnen noch einen Schritt weiter und haben ausgewählte Verfahren, bei denen ideologische Aspekte bei der Urteilsfindung eine Rolle gespielt haben könnten, inhaltlich analysiert. Im Mittelpunkt stand für die RechtshistorikerInnen die Frage: Hat sich die juristische Methodik der Zivilgerichte nach 1938 geändert?"

Der Operationsmodus der Zivilgerichtsbarkeit hat sich nicht grundlegend verändert", fasst Franz-Stefan Meissel eines der Projektergebnisse zusammen, und erklärt: "Auf der einen Seite wandten die Richter die nationalsozialistischen Gesetze an, auf der anderen Seite zeigte sich aber eine gewisse Beibehaltung traditioneller juristischer Methodik. So mussten das Darlegen des Sachverhalts und das rechtliche Vorbringen der Parteien nach wie vor die herkömmlichen zivilrechtsdogmatischen Filter passieren. Auf oftmals von Anwälten eingebrachte außerrechtliche Argumentationen, z.B. mit ideologischen Begründungen wie dem 'Führerwillen', ließen sich die Richter selten ein."

Was war die Motivation?

Für die RechtshistorikerInnen gestaltet es sich im Nachhinein schwierig, allein anhand der Urteilsbegründungen die richterliche Motivation zu erkennen. Stimmte ein Richter der Scheidung einer "Rassemischehe" nicht zu, weil er nicht dem Wunsch einer Jüdin bzw. eines Juden entsprechen wollte, oder weil er wusste, dass die Eheleute die Scheidung nur aus Druck einreichten und eigentlich gar nicht wollten? "Die Sprache liefert uns da wenig Hinweise", erklärt Franz-Stefan Meissel: "Oft wurde gerade da, wo eine Entscheidung gegen die Parteilinie oder zu Ungunsten eines Parteifunktionärs gefällt wurde, bewusst viel NS-Jargon benutzt, um die wahre Motivation zu verschleiern."

Das bedeutet aber nicht, dass die Zivilrichter am Landgericht Wien eventuell Gegner des Nationalsozialismus waren. "Die österreichische Richterschaft war bereits in den 1930er Jahren 'gesäubert', d.h. es waren überwiegend nur noch Personen aus dem rechten und deutsch-nationalen Milieu am Gericht tätig", betont Meissel.

Rechtsunsichere Zeiten

Der Projekttitel "Privatrecht in unsicheren Zeiten" zeigt, dass es Franz-Stefan Meissel bei der Frage nach der Beständigkeit des Rechtsstaats in schwierigen Zeiten nicht ausschließlich um die Zeit zwischen 1938 und 1945 geht: "Der Nationalsozialismus ist ein Beispiel für eine prekäre Zeit. Wir konnten aufzeigen, dass selbst in einem totalitären Staat nicht alles bis ins kleinste Detail umgesetzt wird, was die Propaganda verkündet." (mw)

Das FWF-Projekt "Privatrecht in unsicheren Zeiten - Österreichische Zivilrechtsjudikatur unter der NS-Herrschaft" läuft vom 01.03.2013-30.04.2017. Projektleiter ist Univ.-Prof. Dr. Franz-Stefan Meissel, stv. Vorstand des Instituts für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte, ProjektmitarbeiterInnen sind  Mag. Dr. Benjamin Bukor, Stephanie Hanel, BA, Mag. Lilly Leitner, Mag. Dr. Christian Reiter, Mag. Victoria Stickelberger, MA und Dr. Stefan Wedrac, alle vom Institut für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte.