Antisemitismus in Österreich nach 1945

Das Jahr 1945 markiert zwar das Ende des Nationalsozialismus, nicht aber des Antisemitismus. Wie ehemalige NationalsozialistInnen in Österreich auf den Kollaps des Regimes reagierten und ihrer Ideologie auch nach der Shoah weiter treu bleiben konnten, erforscht die Zeithistorikerin Margit Reiter.

Wie gingen ehemalige NationalsozialistInnen in Österreich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs mit ihren NS-Überzeugungen um? War es ihnen möglich, weiter an ihren alten antisemitischen Vorurteilen und Denkmustern festzuhalten oder haben sie sich an die neuen politischen Gegebenheiten angepasst? Fragen wie diese stehen im Zentrum eines aktuellen FWF-Forschungsprojekts am Institut für Zeitgeschichte, das sich die Aufarbeitung von ideologischen Kontinuitäten und politischer Umorientierung im "Ehemaligen"-Milieu zwischen 1945 und 1960 zum Ziel gesetzt hat.

"Das Projekt füllt nicht nur eine beträchtliche Forschungslücke, sondern versteht sich als erster Schritt für eine noch ausstehende umfassende Geschichte des Antisemitismus nach der Shoah in Österreich", erklärt Projektleiterin Margit Reiter. Dieser Bereich sei bislang wissenschaftlich sträflich vernachlässigt worden. "Dabei ist es gerade in einem Land, in dem die Rechten derart weit in der politischen Mitte verankert sind, wichtig, sich mit dieser Phase der Umbrüche und Veränderungen auseinanderzusetzen, um einen besseren Blick auf die Gegenwart zu bekommen. Die Themen haben sich zwar geändert – statt dem Judentum heißt das Feindbild heute 'der Islam' oder 'die Ausländer' – aber die Strategien der Exklusion sind ähnlich", betont Reiter.

Spurensuche im "Ehemaligen"-Milieu


Antisemitismus war in Europa schon vor den Nationalsozialisten durchaus gang und gäbe. Unter Hitler wurde der Hass auf alles Jüdische aber erst zur zentralen Staatsideologie. Und was war nach 1945? "Nach dem Holocaust konnte man sich nicht mehr offen zu dieser Einstellung bekennen. Das heißt aber nicht, dass der Antisemitismus über Nacht verschwunden ist", stellt die Expertin klar. Dieser habe vielmehr neue Formen angenommen und war vor allem im Kreise von ehemaligen überzeugten Nazis nach wie vor verbreitet. "Genau dieses 'Ehemaligen'-Milieu möchte ich mir gemeinsam mit meinem Team erstmals näher anschauen", so Reiter.

Dazu werden drei Bereiche genauer betrachtet: die private und soziale Ebene am Beispiel von NS-Familien (Binnendiskurs), die politische Ebene am Beispiel des 1949 gegründeten Verband der Unabhängigen (VdU) und der FPÖ (Außendiskurs) sowie der öffentliche und mediale Gegendiskurs. Als Basis für die wissenschaftliche Analyse werden verschiedenste Quellen herangezogen – z.B. Medien der "Ehemaligen", Parteiakten, Parlamentsprotokolle, Dokumente aus NS- und US-Army-Archiven, Entnazifizierungsakten, Korrespondenzen, Nachlässe und Memoiren ehemaliger Nazis und Interviews mit deren Kindern.

Von "double speak" bis Sprach-Codes

"Wir haben zwar noch einiges an Arbeit vor uns. Die bisherigen Ergebnisse zeigen aber ganz deutlich, dass die 'Ehemaligen' nach Kriegsende gelernt haben, sich allmählich anzupassen und ihre Judenfeindlichkeit nicht mehr so offen zu zeigen", berichtet Reiter. Dabei sei es zu einem sogenannten "double speak" gekommen: Nach außen hin gaben sie sich geläutert, nach innen – unter Gleichgesinnten oder innerhalb der Familie – hielten sie unverhohlen an ihren Überzeugungen fest. "Nach außen hin stellten sie sich selbst als Opfer (der Entnazifizierung und der Siegerjustiz) dar, im Binnendiskurs standen sie aber stolz zu ihrer Gesinnung und ihren Taten", weiß die Forscherin aus persönlichen Quellen und Gesprächen mit Täterkindern.


Dabei wurden im Grunde drei verschiedene Strategien angewandt: Themen wie die Judenvernichtung wurden erst gar nicht angesprochen bzw. verharmlost oder sogar geleugnet, NS-Verbrechen wurden gegen Verbrechen der Alliierten aufgerechnet und es kam zur Etablierung von sprachlichen antisemitischen Codes (z.B: "EmigrantIn") und Anspielungen (z.B. auf vermeintlich "jüdische" Namen), die im Milieu der "Ehemaligen" sehr wohl verstanden wurden.

VdÜ, FPÖ, SPÖ und ÖVP


Dass die "alte Gesinnung" dabei nicht nur auf die eigene Familie oder den einschlägigen Wirtshaus-Stammtisch beschränkt blieb, sondern auch politisch in Österreich weiter Fuß fassen konnte, zeigt das Beispiel des VdU und der aus ihr hervorgegangenen FPÖ. "Der VdU hatte von Anfang an dezidiert auch das Ziel, ehemalige Nazis für sich zu gewinnen. Nach internen Richtungsstreits und einigen Abspaltungen wurde der VdU 1955 aufgelöst. Aus seinem nationalen Flügel hat sich die FPÖ entwickelt", schildert Reiter.

"Parlamentsprotokolle aus der Nachkriegszeit belegen, wie stark sich VdU und FPÖ im Parlament für eine Rückgängigmachung der Entnazifizierung und gegen eine Entschädigung für jüdische Opfer einsetzte", betont Margit Reiter. Im Bild: VdU-Gründer Herbert Kraus bei einer Wahlveranstaltung 1949 in Wien. (Foto: ÖNB Bildarchiv)


Doch der Zeithistorikerin zufolge wäre es nicht richtig, den Antisemitismus im Nachkriegsösterreich allein den 'Ehemaligen' zuzuschieben. "Neben dem sogenannten 'dritten Lager', das als Auffangbecken für ehemalige Nazis diente, blieb antisemitistisches Gedankengut auch in anderen Teilen der politischen Elite erhalten. Auch die anderen Parteien ÖVP und SPÖ haben ehemalige NationalsozialistInnen politisch reintegriert und auch dort wurde oft antisemitisch argumentiert. Antisemitismus nach der Shoah ist somit ein allumfassendes österreichisches Nachkriegsphänomen", so Reiter. (ms)

Das FWF-Projekt "Antisemitismus nach der Shoah. Ideologische Kontinuitäten und politische Umorientierung im 'Ehemaligen'-Milieu in Nachkriegsösterreich (1945-1960)" unter der Leitung von  Mag. Dr. Margit Reiter vom Institut für Zeitgeschichte der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät läuft von 1. September 2014 bis 31. August 2017. ProjektmitarbeiterInnen sind Mag. Matthias Falter und Mag. Linda Erker.