Verfolgte MedizinerInnen im Nationalsozialismus

Sigmund Freud und Otto Loewi sind prominente Beispiele im NS-Staat verfolgter österreichischer Mediziner. Zahlreiche Schicksale sind heutzutage allerdings unbekannt. Eine Rechtswissenschafterin und eine Historikerin der Universität Wien zeichnen die Geschichte der verfolgten Ärzteschaft nun nach.

Erstmals zusammengearbeitet haben Projektleiterin Ilse Reiter-Zatloukal und Projektbearbeiterin Barbara Sauer bei einem Forschungsprojekt, in dem sie im Auftrag des Österreichischen Rechtsanwaltskammertags das Schicksal verfolgter österreichischer RechtsanwältInnen in den Jahren 1938 bis 1945 untersuchten. Bei einer Präsentation des dazugehörigen Gedenkbuchs in Tel Aviv wurden die beiden Forscherinnen von einem Zuhörer angesprochen: Er stellte sich als Zahnarzt vor, der 1939 in Wien geboren und kurz danach mit seinen Eltern nach Israel geflohen war, und fragte: "Wieso gibt es so eine Aufarbeitung nicht auch für ÄrztInnen?", erzählt Ilse Reiter-Zatloukal über den Anstoßmoment für die ersten aktiven Schritte zum aktuellen Projekt "Ärzte und Ärztinnen in Österreich 1933–1945. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung."


Franzi Haas wurde 1909 im galizischen Stanislau (Iwano-Frankiwsk, Ukraine) geboren. Schon als Vierjährige äußerte sie den Wunsch, Ärztin zu werden. Zu dieser Zeit übersiedelte die Familie nach Wien, wo Franzi 1934 ihr Medizinstudium abschloss und begann, als Ärztin zu arbeiten. Nach dem Entzug der Approbation 1938 war sie als "Krankenbehandler für Juden" zugelassen. 1942 wurde Familie Haas nach Theresienstadt deportiert, wo der Vater verstarb, 1944 wurden die Frauen nach Auschwitz überstellt. Dort kam die Mutter ums Leben, Franziska und ihre Schwester Julia wurden in das KZ Groß-Rosen gebracht, wo sie schließlich im Mai 1945 die Rote Armee befreite. Franzi Haas war durchgehend als Ärztin tätig gewesen. Sie kehrte nach Wien zurück und arbeitete bis kurz vor ihrem Tod 1980. (Foto: Privat, 1938)



Fokussierung auf die Opfer

Ziel des Forschungsprojekts ist die umfassende historische Aufarbeitung von Entrechtung und Verfolgung österreichischer MedizinerInnen in der NS-Zeit. Dabei stehen ausschließlich die Opfer im Fokus, nicht TäterInnen oder PatientInnen. Die Namen und Biographien der aus "rassischen" und politischen Gründen oder auf Grund ihrer sexuellen Orientierung diskriminierten bzw. verfolgten ÄrztInnen werden in einem Gedenkbuch veröffentlicht.

Die beiden Wissenschafterinnen rechnen mit ca. 4.000 Einzelbiographien. Diese sollen erfasst und die individuellen Schicksale möglichst rekonstruiert werden. Dabei liegt der Fokus sowohl auf dem beruflichen Werdegang der Betroffenen als auch auf deren weiteren Lebenswegen nach März 1938. "Die Opfer aus der Vergessenheit herauszuholen, ihnen quasi im Wege der Wissenschaft ein Denkmal zu setzen, ist ein wichtiges Ziel des Projekts", hebt Ilse Reiter-Zatloukal hervor.


Für das Buchprojekt "Ärztinnen und Ärzte in Österreich 1938-1945 – Entrechtung, Vertreibung, Ermordung" werden ZeitzeugInnen und Angehörige gesucht. Jeder auch noch so kleine Hinweis kann den Autorinnen der Studie helfen, ein möglichst lückenloses Bild der zwischen 1938 und 1945 entrechteten, vertriebenen und ermordeten ÄrztInnen zu zeichnen. Wenn Sie betroffene Angehörige beziehungsweise anderweitige Kenntnisse über ns-verfolgte Ärztinnen und Ärzte haben oder über Dokumentationsmaterial (auch Fotos) verfügen, wenden Sie sich bitte an Ilse Reiter-Zatloukal oder Barbara Sauer.



Die Verfolgung und ihre Auswirkungen


Aufgrund der am 25. Juli 1938 bekannt gemachten Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz erloschen – wie im "Altreich" – die Approbationen jüdischer ÄrztInnen in Österreich am 30. September 1938. Die beamtete ÄrztInnenschaft wurde mittels der am 4. Juni 1938 veröffentlichten "Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums" von "Juden" und politischen GegnerInnen gesäubert. Den frei praktizierenden jüdischen ÄrztInnen wurde am 1. Juli 1938 die Kassenzulassung entzogen. Einige jüdische ÄrztInnen, sog. "Krankenbehandler", erhielten Spezialzulassungen für die Behandlung ausschließlich jüdischer PatientInnen. Wer diese nicht besaß, dem war lediglich gestattet, den Ehepartner und die eigenen Kinder zu verarzten. Teilweise fiel die "rassische" mit der politischen Verfolgung zusammen – prominente Beispiele sind hier Wilhelm Ellenbogen und Sigmund Freud.


Josef Deutsch wurde 1898 im böhmischen Reichenberg (Liberec, Tschechien) geboren, im selben Jahr kam Ella Veisz-Eszenyi im ostungarischen Petneháza zur Welt. 1924 heirateten sie noch vor Abschluss des Medizinstudiums im Stadttempel in Wien. Das Paar lebte im 8. Bezirk an der Adresse Lange Gasse 65, wo sie auch in der gemeinsamen Ordination tätig waren, Dr. Ella Deutsch als Internistin, Dr. Josef Deutsch als Gynäkologe. Drei Monate nach dem "Anschluss" flüchtete das Paar mit der sechsjährigen Tochter und dem einjährigen Sohn nach Chicago. In den USA mussten umfangreiche Prüfungen abgelegt werden, wenn die Diplome von ausländischen Universitäten stammten. Es dauerte daher einige Jahre bis die Deutschs schließlich wieder eine gemeinsame Praxis betreiben konnten. Josef starb im Juni 1966, Ella im November 1986. (Foto: ÖStA/AdR/06/NHF Deutsch 23725, Österreichisches Staatsarchiv)



Komplizierte Archivsituation

"Die Suche nach den Namen und Biographien der Opfer ist aufwendig", sagt Barbara Sauer. Wichtige Daten liefern die Archivalien der einzelnen österreichischen Ärztekammern, doch die Archivsituation gestaltet sich von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. "In einigen Bundesländern wie Kärnten und Salzburg ist gar nichts mehr vorhanden, in anderen dagegen im Besitz der jeweiligen Ärztekammern", so die Historikerin. Weiters werden zahlreiche Institutionen wie das Österreichische Staatsarchiv, das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands und die Landesarchive nach Daten durchkämmt. Laufend wächst auch das Angebot an relevanten Informationen, die im Internet zu finden sind.

Die Suche nach Nachkommen

Eine weitere Methode zur Datengewinnung besteht im "Netzwerken": So kooperieren die Wissenschafterinnen nicht nur mit einschlägig arbeitenden FachkollegInnen im In- und Ausland sowie Einrichtungen wie dem "Gedenkdienst", sondern auch intensiv mit der Wiener und auch ausländischen Ärztekammern. "Wir haben z.B. in Mitgliederzeitschriften der Ärztekammern Inserate geschaltet. Die Annahme, dass einige Kinder verfolgter ÄrztInnen den gleichen Beruf gewählt haben, erwies sich als richtig. Feedback haben wir z.B. bereits aus Israel, den USA, Dänemark und der Schweiz erhalten", so Barbara Sauer und ergänzt: "Die Suche nach Nachkommen ist oft mühsam. Aber die bewegenden Kontakte zu den Angehörigen sehe ich als Lohn der Knochenarbeit an. Das Gedenken an die Opfer kann nur kollektiv ermöglicht werden."


Erich Halbkram wurde 1913 in Wien in bescheidenen Verhältnissen geboren und 1937 hier zum Dr. med. promoviert. Nach dem "Anschluss" konnte Dr. Erich Halbkram als "Mischling ersten Grades" zwar weiter als Arzt arbeiten, sein Vater, der als Jude galt, musste flüchten und wurde 1944 im KZ Auschwitz ermordet. Dr. Halbkram gehörte der "Tschechischen Sektion der KPÖ" an, einer Widerstandsorganisation, die 1940 durch den Zusammenschluss zweier bis dahin getrennt arbeitender Gruppen aus der tschechischen Minderheit entstand, Propagandamittel verteilte, Brandstiftungen und Sprengstoffanschlägen durchführte. Am 29. September 1941 wurde Dr. Erich Halbkram festgenommen und am 6. November 1941 im KZ Mauthausen gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Widerstandsgruppe ohne richterliches Urteil erschossen. (Foto: Wiener Stadt- und Landesarchiv, GESTAPO, K1: Erich Halbkram)



Vorbildwirkung?

Nach den RechtsanwältInnen wird in diesem Projekt nun eine zweite Gruppe innerhalb der freien Berufe in Angriff genommen, und die Projektleiterin hofft: "Vielleicht können wir durch unser Projekt auch andere Berufsgruppen aufrütteln und Denkanstöße dafür setzen, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. Lange kann man sich jedenfalls damit nicht mehr Zeit lassen, will man noch auf das wichtige Wissen der Kinder der Verfolgten zurückgreifen." (mw)

Das Projekt "Ärzte und Ärztinnen in Österreich 1933–1945. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung" läuft von 2012 bis 2016. Gefördert wird das Projekt u.a. vom Jubiläumsfonds der österreichischen Nationalbank, dem Zukunftsfonds der Republik Österreich, dem Nationalfonds der Republik Österreich, der Wiener Ärztekammer und anderen Länderkammern, der Jewish Claims Conference und einzelnen Landesregierungen.