Brexit: Kein leichter Fall für die EU
| 24. Juni 2016Zu allen Schwierigkeiten, die der Brexit für Europa mit sich bringt, kommt erschwerend dazu, dass die EU dafür Zeitressourcen von den eigentlich zu lösenden großen Problemen der Stunde abzweigen muss, meint EU-Expertin Gerda Falkner von der Universität Wien in ihrem Gastbeitrag.
Das knappe Votum der britischen BürgerInnen schafft im krisengeschüttelten Europa eine Menge zusätzlicher Herausforderungen. Selbst im Vereinigten Königreich löst der EU-Austritt per se erst einmal keines der zahlreichen thematisierten Probleme.
TV-Tipp: Am 24. Juni 2016 im Anschluss an die "ZiB spezial" um 20.15 Uhr ist Gerda Falkner zu Gast am "Runden Tisch" bei Ingrid Thurnher (ORF 2). Mit ihr diskutieren: Gregor Woschnagg (ehem. EU-Botschafter), Peter Brezinschek (Chefökonom) und Melanie Sully (Politologin). Weitere Infos
Souveräner oder schwächer?
Die erhoffte Souveränität, die letztlich als zentrales Argument der Austrittswilligen triumphiert hat, scheint in der globalisierten Welt höchst fragwürdig, denn auch außerhalb der EU befindet sich Großbritannien in einem dichten Netz an internationalen Abkommen, die viele Aspekte nationaler Politik berühren; zugleich hat man allein aber viel weniger Gewicht in der Mitgestaltung der globalen Entwicklungen.
Bei der Migration kann Großbritannien nach einem Austritt tatsächlich leichter Grenzen ziehen – ob das Großbritannien wirklich gut tut, ist allerdings höchst strittig, und im Fall der Flüchtlinge stellen sich moralische Fragen nicht weniger dringend als zuvor.
Mögliche Auswirkungen
Die befürchteten ökonomischen Einbußen, die letztlich vergeblich vom "Bremain"-Camp angemahnt wurden, werden jetzt wohl vielen deutlicher vor Augen stehen als noch gestern: hohe Kosten des Austritts, geringeres Wachstum – außer, praktisch alle ökonomischen Prognosen hätten unrecht. Weiters droht ein Einbruch des Finanzmarkts – im schlimmsten Fall wird eine Wirtschafts- und Finanzkrise ausgelöst, was übrigens auch für die Eurozone eintreten könnte.
Zusätzlich hat der populistische Charakter der Debatten vor der Abstimmung tiefe Gräben geschaffen, und regionale Spannungen stehen zwischen den mehr oder weniger EU-freundlichen Landesteilen bevor – mitsamt möglichen neuerlichen Abspaltungsversuchen.
EU im Dilemma
Die EU wiederum steht vor einem Dilemma: Es gibt jetzt noch mehr Rufe nach "Subsidiarität", was ohnehin schon lange ein großes Thema und Gegenstand mehrerer Reformen war. Zugleich wird der EU jedoch mit guten Gründen mangelnde Problemlösungskompetenz angelastet. Um Probleme zu lösen braucht es aber Entscheidungen. Und um diese zu treffen, hat die EU in der Praxis oft zu hohe Konsenserfordernisse. Diese reichen bis hin zur Einstimmigkeit zwischen den Regierungen inklusive nationaler Ratifizierungsprozesse bei wesentlichen Vertragsänderungen.
Ein Problem mehr
Während viele Themen der heutigen Zeit eigentlich zentrales Handeln der EU benötigen, ist ein solches aber wegen der beschriebenen Entscheidungshürden und auch wegen der bekanntlich großen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten stets schwer zu erreichen. Der zunehmende Populismus und Nationalismus in vielen Ländern verschärft dieses Problem, und wird durch den Brexit wiederum selbst angefeuert. Mehrere führende Rechtspopulisten haben schon ihre Hoffnung auf "eigene" Referenden ausgedrückt.
Zu all diesen prinzipiellen Schwierigkeiten kommt nun auch noch hinzu, dass die EU mindestens in den nächsten beiden Jahren während des "komplexesten Scheidungsprozesses der Welt" (Financial Times, 24.6.2016) für die anstehenden Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich wichtige Ressourcen von den eigentlich zu lösenden großen Problemen der Zeit wird abzweigen müssen.
Zur Autorin:
Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerda Falkner leitet das Institut für Europäische Integrationsforschung der Universität Wien.