Europa braucht mehr Europa

Passend zum Weltflüchtlingstag fand am 20. Juni 2016 an der Universität Wien eine Podiumsdiskussion zur Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa?" statt. Ausgetauscht wurden Diagnosen und Lösungsvorschläge für die europäische "Flüchtlingspolitikkrise".

Rektor Heinz W. Engl freut sich über das große Interesse – der Festsaal ist vollbesetzt – und erklärt das Projekt Semesterfrage: Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen und Studierenden ein Frage, die die Gesellschaft aktuell bewegt; im Sommersemester 2016 lautete die Frage: Wie verändert Migration Europa?. In Kooperation mit der Tageszeitung "Der Standard" wird diese Frage auch mit LeserInnen online diskutiert. Die Gastbeiträge der Uni Wien-ForscherInnen auf "derStandard.at" zur Semesterfrage 2016 wurden bereits über 40.000 Mal aufgerufen und von mehr als 850 UserInnen kommentiert.

Im Sinne dieser Kooperation wird die Abendveranstaltung von Petra Stuiber, Leiterin der Ressorts Chronik und Wien bei "Der Standard" und Absolventin der Universität Wien, moderiert. Sie begrüßt das zahlreich erschienene Publikum und stellt zunächst Christine Langenfeld von der Universität Göttingen vor, die den Impulsvortrag halten wird. Die deutsche Migrationsrechtsexpertin ist Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration und überdies Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Universität Wien.

Zuvor gibt es noch einen Rückblick über das vergangene Semester, das im uni:view Magazin und auf den Social Media Kanälen der Universität Wien ganz im Zeichen des Themas "Wie verändert Migration Europa?" stand: Eingespielt wird ein Videozusammenschnitt von Statements und Antworten von WissenschafterInnen aus den verschiedensten Disziplinen.

Christine Langenfeld stellt ihre These "Eine gute Migrationspolitik braucht mehr Europa!" vor und resümiert noch einmal die Ereignisse in der EU seit dem 5. September 2015. Die Krise offenbare, dass sich die Staaten uneins sind, die Flüchtlinge waren nur der Katalysator. Es brauche mehr Verantwortung seitens der EU, eine Harmonisierung des Flüchtlingsrechts, Asylverfahren nach einheitlichen Standards und eine Europäisierung des Vollzugs. Außerdem "Mut zu beherztem Handeln", Kompromissbereitschaft der EU-Mitgliedsländer und gemeinsame europäische Lösungsansätze.

An die Stelle der unkoordinierten müsse eine gesteuerte Form des kollektiven Schutzes treten – auch insofern, dass Geflüchtete ihren Asylantrag künftig nicht an einen Nationalstaat, sondern an die EU richten. Die Zusammenarbeit mit der Türkei sei ein wichtiger Bestandteil, u.a. auch in Zusammenhang mit dem Zerstören der Geschäftsmodelle von Schleppern. Im Bereich Arbeitsmigration hingegen empfiehlt sie der EU, intensiv über die Eröffnung legaler Zugangswege nachzudenken. Das alles gehe nicht von heute auf morgen, "aber man muss wissen, wohin man will!", so die Migrationsrechtsexpertin.

Die Diskussion am Podium eröffnet Petra Stuiber mit einer Frage an Heinz Faßmann, der auch Vorsitzender des Expertenrates für Integration im Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres ist: "Was braucht es, dass die Integration, die alle verlangen, auch tatsächlich gelingt?" Planbarkeit, betont der Experte: Denn nur planbare Zuwanderung bedeute, dass man Strukturen aufbauen könne. Wichtig ist es Faßmann zu betonen, dass für Pessimismus kein Platz sei, sondern, dass "wir etwas tun müssen".

Ein weiterer wichtiger Punkt aus Sicht des Migrationsforschers ist es, AsylwerberInnen so rasch wie möglich weg von einer bedarfsorientierten Mindestsicherung hin in die nicht alimentierte Existenz zu führen. Nur so vermeide man ein "wir zahlen ein und die anderen entnehmen draus", eine Debatte, die derzeit ansatzweise schon geführt wird und von der hauptsächlich rechtspopulistische Parteien profitieren (zum Interview mit Heinz Faßmann: "Europa ist nicht perfekt, aber unersetzbar").

Alev Cakir ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts "'Migrantische' Unternehmerinnen in Wien: Welche Rolle spielen transnationale Aktivitäten für gesellschaftliche Positionierungen und Mobilität?" (Lesen Sie hier das aktuelle Interview zum Projekt: "Migrantisches Unternehmertum. Selbstwahrnehmung vs. Fremdzuschreibung"). Sie plädiert einmal mehr dafür, Flucht und Asyl – als Menschenrechte – und Migration nicht zu verwechseln. "Da gibt es nichts zu verhandeln oder sich davon – wie beim EU-Türkei Deal – freizukaufen." Fragwürdig finde sie v.a. auch eine ökonomische Verwertungslogik im Hinblick auf Flüchtlinge. Sie ruft in Erinnerung, dass Migrationsbewegungen Europa schon immer verändert haben, und betont: "Es gibt nicht 'die MigrantInnen'".

So wie es auch nicht "die OsteuropäerInnen" gäbe, sagt Philipp Ther, Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Experte für die Geschichte der Transformation seit den 1980er Jahren sowie die Kulturgeschichte Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert. Wo liegt eigentlich Österreich auf dieser Achse Ost-West, die von Medien und Politik gerne konstruiert wird, fragt er. Die östlichen Mitgliedsstaaten hätten zur Flüchtlingsfrage recht unterschiedlich reagiert. Er plädiert dafür, die Debatte nicht so fingerzeigend bzw. dramatisierend zu führen (zum Interview mit Philipp Ther: "Mit dem Finger zeigen vorsichtig sein").

Der Große Festsaal ist bis auf den letzten Platz besetzt; neben vielen VertreterInnen der Migrationsforschung an der Universität Wien und Mitwirkenden der Semesterfrage sind v.a. auch sehr viele Studierende und NachwuchsforscherInnen im Publikum. Die Diskussion wurde auch per Livestream übertragen und kann online nachgeschaut werden.

Gerda Falkner leitet das Institut für Europäische Integrationsforschung an der Universität Wien und hat vor kurzem in einem groß angelegten Projekt untersucht, welche Auswirkungen breite Krisen auf die EU-Politik haben und wann sie zu Durchbrüchen oder eben Blockaden führt (zum Artikel "EU: Hat die Krise auch ihr Gutes?"). Die Politikwissenschafterin sieht die Ursache der "Flüchtlingspolitikkrise" in der Mehrebenenpolitik. "Es ist ein Föderalismus-Problem", sagt sie, und weiter: "Die relevante Konfliktlinie ist nicht geographisch, hier geht es um Weltanschauungen". Wie Alev Cakir vor ihr betont auch Falkner die wichtige Differenzierung zwischen Asyl als Menschenrecht – das aber nicht das Recht beinhalte, den Ort, an dem man Schutz findet, frei zu wählen – und Wirtschafts- oder Arbeitsmigration, wo es wichtig sei, dass Europa sich die EinwandererInnen selbst aussuche. Aber: Europa sei hier als Zielland auf dem internationalen Arbeitsmarkt leider gar nicht so attraktiv und werde von Ländern wie den USA, Kanada etc. abgehängt.

Auf die erste Diskussionsrunde folgt eine weitere Videoeinspielung: Junge WissenschafterInnen der Universität Wien erzählen von ihren Forschungsprojekten und ihren Gedanken zur Zukunft Europas. Die Doktorandin Elisabeth Musil etwa sieht Programme wie Erasmus, Erasmus Mundus, die weiter ausgebaut werden sollten, als wichtige Instrumente, um das europäische Wir-Gefühl zu stärken.

Auf interessante Diskussionsbeiträge und Statements sowohl am Podium als auch aus den Videobeiträgen folgen ebenso spannende Wortmeldungen und Fragen aus dem Publikum, etwa nach der wichtigen Rolle von zivilgesellschaftlichen Initiativen, die aber von der Politik allein gelassen oder ignoriert werden, oder nach dem Dilemma, dass es zum einen wünschenswert wäre, wenn es geflüchteten Studierenden möglich wäre, ihr Studium rasch fortzuführen, sie aber in Österreich beispielsweise mit der Inskription ihre Mindestsicherung verlieren, wie Vizerektor Faßmann erklärte. Ein Besucher der Veranstaltung, der selbst aus Aleppo geflüchtet ist, erzählt von seinen Erfahrungen und beschreibt u.a. das Problem, dass aufbauende Deutschkurse für Geflüchtete nicht direkt hintereinander, sondern im Abstand von mehreren Monaten stattfinden würden, in denen viel Gelerntes wieder verloren gehe.

Nach der Frage-Antwort-Runde fasst die Eröffnungsrednerin Christine Langenfeld die aus ihrer Sicht wichtigsten Punkte noch einmal zusammen. Erstens, eine frühe Integration schon im Verfahren, unterstützt u.a. durch Integrationskurse. Zweitens, das Setzen von Maßnahmen zur Qualifizierung für die Erwerbstätigkeit, nach dem Prinzip Fördern und Fordern bzw. nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung. Dazu gehöre auch das Werben für die Werte der aufnehmenden Gesellschaft, etwa in Orientierungskursen. Das wichtigste Ziel, auch im Sinne der Geflüchteten, sei es, dass sie sich so schnell wie möglich selbst erhalten können.

Zum Ausklang der Podiumsdiskussion zur ersten Runde des Wissenschaftskommunikationsprojekts "Semesterfrage" gibt es bei einem Umtrunk noch die Gelegenheit, mit den PodiumsteilnehmerInnen ins Gespräch zu kommen und weiter zu diskutieren. Auch im kommenden Semester wird wieder eine Semesterfrage in Kooperation mit "Der Standard" gestellt und sowohl online über Interviews, Videos, Gastkommentare als auch im Rahmen einer Veranstaltung von WissenschafterInnen und Studierenden der Universität Wien diskutiert werden. Alle Beiträge zur Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa?" im Sommersemester 2016 finden Sie im uni:view Magazin unter semesterfrage.univie.ac.at bzw. auf Social Media unter #Semesterfrage. (Text: uni:view, Fotos: Philip Lichtenegger/Universität Wien)