Brenner – Ein umkämpfter europäischer Erinnerungsort

Der Brennerpass zwischen Tirol und Italien wurde in den letzten Wochen stark diskutiert. Die Einführung von Grenzkontrollen steht möglicherweise bevor. Wieso es wichtig ist, sich mit der Geschichte des Brenners auseinanderzusetzen, erklärt Zeithistoriker Oliver Rathkolb in seinem Gastbeitrag.

Die Brenner-Passstraße über den niedrigsten Gebirgspass im Osten des Alpenhauptkamms war bereits in der Steinzeit eine Wege-Transitroute und entwickelt sich in der Römerzeit zu einer wichtigen Handelsroute, die auch immer militärstrategische Bedeutung hatte. Schon 1522 wurde eine permanente Postverbindung eingerichtet, und Johann Wolfgang von Goethes Reiseschilderung aus 1786 wurde gerade in den Medien wieder in Erinnerung gerufen.

Claus Gatterer (1924-1984) war einer der herausragenden Südtiroler Intellektuellen der Nachkriegszeit. Das multimediale Ausstellungsprojekt Gatterer 9030 greift das geistige Erbe des Südtiroler Journalisten und Historikers auf. Bei der Ausstellungseröffnung am Donnerstag, 12. Mai, findet eine Diskussionsrunde zum Thema "Lügenpresse? Warum kritischer Journalismus heute wichtig ist" statt. Zudem stellt Oliver Rathkolb das geplante neue Masterstudium "Zeitgeschichte und Medien" vor. Nähere Informationen

Teilung Tirols 1918/19

Seine starke politisch-emotionale Wirkung entfachte der Brenner aber erst mit dem Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye nach dem Ersten Weltkrieg 1919 und der Abtretung Südtirols an Italien. Diese Entscheidung war bereits am 26. April 1915 im Punkt 4 des geheimen Londoner Vertrages gefallen, und Italien kündigte schon am 3. Mai die Neutralität gegenüber Österreich-Ungarn auf und nahm auf der Seite der Mittelmächte am Krieg teil. 1916 – mitten im Krieg – hatte es bereits erste Vorboten dieser paktierten Teilung Tirols gegeben, als in der Gemeinde Brenner, die 1910 96 Häuser und 461 EinwohnerInnen zählte, unterhalb des Brenner-Bades eine Verteidigungslinie mit Schützengräben und Stacheldrahtverhauen errichtet wurde. Noch vor der Ausrufung der Republik Deutsch-Österreich wurde am 10. November 1918 der Brenner von italienischen Truppen besetzt.

80 Jahre später

Nicht ganz 80 Jahre später schien am 1. April 1998 mit dem Wegfall der Grenzkontrollen als Folge der Unterzeichnung des Schengen-Abkommens und des zuvor erfolgten EU-Beitritts Österreichs diese emotionale Wunde der Teilung Tirols langsam endgültig zu verheilen. Seither wird der Brenner als "Ort der Begegnung" gefeiert, so der Titel einer Ausstellung an der Universität Innsbruck 2005. Trotz der Autonomielösung für Südtirol durch das zweite Autonomiestatut 1972, die Paketlösung und die Streitbeilegungserklärung 1992 sollte aber die Teilung Tirols weiter – vor allem in Tirol – immer wieder bis 1998 kontrovers diskutiert werden.

Inzwischen sind schon fast zwei Generationen in Italien, Österreich und der EU herangewachsen, wenn ich Karl Mannheims Generationendefinition folge, für die es diese heftig umkämpfte Grenze in der Realität nicht gegeben hat. Für sie ist die heftige Auseinandersetzung in den EU-Beitrittsverhandlungen über eine Transitregelung, der den Nord-Südverkehr auf der Straße regulieren sollte bzw. zur Umsetzung des Brenner-Basistunnels im Jahre 2026 führen sollte, scheinbar plötzlich obsolet. Knapp zwei Millionen Sattelschlepper und Lkw-Züge querten 2015 den Brenner-Pass, Privat-Autos nicht eingerechnet. Bereits in dieser Frage zeigte sich, dass die diversen österreichischen Verkehrsminister nicht nachhaltig erfolgreich in Brüssel gewesen sind und die Transitpolitik ein umkämpftes Thema in Tirol bleiben sollte. Im EU-Lobbying waren österreichische Entscheidungsträger mangels Bereitschaft, Koalitionen und Verbündete in der EU zu suchen, nicht so erfolgreich und geschickt wie ihre Vorgänger im Kalten Krieg.

Autonomie Südtirols


Nicht in Frage gestellt wurde aber die Grenzöffnung, trotz der negativen Auswirkungen für den Ort Brenner selbst, der sehr gut von der Grenzsituation gelebt hat. Die historischen Bilder der Südtirol-Frage wurden aus der Tagespolitik in die Schul- und Geschichtsbücher abgeschoben. Vergessen ist der Aufmarsch des österreichischen Bundesheeres am Brenner 1967 als Folge der heftigen Konflikte mit Italien wegen der Folgen der Attentate von Südtiroler Bombenattentätern und österreichischen Unterstützern seit 1961 und der nachfolgenden Gerichtsprozesse und militärischen und polizeilichen Maßnahmen in Italien. Die damalige ÖVP-Alleinregierung unter Bundeskanzler Klaus wollte damit vor allem eine symbolische Maßnahme setzen, da Italien den Schmuggel von Sprengstoff aus Österreich nachweisen konnte. Der "Assistenzeinsatz" des Bundesheeres, der nicht nur in Tirol, sondern auch vom damaligen SPÖ-Oppositionschef Bruno Kreisky kritisiert wurde, sollte ein halbes Jahr bis Ende Dezember 1967 dauern, wobei übrigens kein einziger Schmuggler gefasst wurde. Wirksam bekämpft werden konnte der gewaltsame Terror in Südtirol, den auch der italienische Geheimdienst punktuell selbst unterstützte, letztlich nur und ausschließlich durch eine politische Lösung auf Verhandlungsebene und eine entsprechend tiefgreifende Autonomie für Südtirol.

Grenzziehung als Symbolpolitik

Verblüffend ist die strukturelle Ähnlichkeit mit der aktuellen heftigen Diskussion der letzten Wochen um Grenzsperren am Brenner – diesmal geht es darum durch bauliche Maßnahmen für künftige Grenzkontrollen auf österreichischer Seite, einen befürchteten Flüchtlings- und MigrantInnenstrom aus Italien und die Schließung der Grenze bei Kufstein durch die Bundesrepublik Deutschland zu verhindern. Wie bereits 1967 geht es aber letztlich primär um Symbolpolitik, d.h. sichtbare politische Maßnahmen gegen den innenpolitischen und gesellschaftlichen Druck, der sich vor allem seit den Flüchtlings- und MigrantInnenströmen an der Grenze in Spielfeld in der Steiermark intensiviert hat. Die Grundausgangslage der Furcht und parteipolitischen Funktionalisierung dieser tief sitzenden Ängste vor "AusländerInnenströmen" ist spätestens seit Ende des Kalten Kriegen 1989/1990 Teil der österreichischen Innenpolitik und beginnt seither zunehmend das Wahlverhalten nachhaltig zu beeinflussen.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016

Europäische Lösung wichtig

Aber der Brenner symbolisiert in dieser Debatte, selbst wenn der neue österreichische Innenminister Wolfgang Sobotka jüngst aufgrund der heftigen italienischen und europäischen Reaktion etwas zurückrudert und von einer Art möglichen Mautkontrolle wie auf italienischen Autobahnen spricht, nicht nur eine neue/alte Grenze "gegen" Italien, den Süden und das Mittelmeer. Der Brenner ist heute eine der zentralen Nord-Süd-Verbindungen der Europäischen Union, und es bedarf daher einer Europäischen Lösung, auch wenn das großen Teilen der österreichischen Politik nicht gefällt.

Fehlen einer stringenten und ressourcenstarken Politik

Während es im Falle der "alten" Brenner-Grenze in jahrzehntelangen Verhandlungen seit den späten 1950er Jahren letztlich gelungen ist, die Südtirol-Frage zu internationalisieren und durch eine der besten Autonomielösungen zu lösen, so sind heute langfristige politische Strategien der EU und Österreichs als EU-Mitglied zur Beendigung der blutigen militärischen und innenpolitischen Konflikte in Syrien, im Irak und Afghanistan scheinbar Utopie. Es fehlt eine stringente und daher auch ressourcenstarke Politik auf europäischer und nationaler Ebene zur Rekonstruktion von Lebens- und Überlebensstrukturen in vielen nordafrikanischen und afrikanischen Staaten, die von Bürgerkriegen und Umweltkatastrophen, Korruption und Diktaturen, aber auch der Ausbeutung internationaler Konzerne nach wie vor geplagt werden.

Auseinandersetzung mit der Historie


Gab es noch in den 1960er und 1970er Jahren zahlreiche Initiativen zur öffentlichen Diskussion über den notwendigen Ressourcen-Transfer des "Nordens" in den "Süden" – "Wirtschaftshilfe statt Waffenexporte" war eine der Devisen –, so beendete die neoliberale Machtdemonstration von Ronald Reagan und Margret Thatcher auf dem ersten North-South-Summit in Cancún 1981 diese Ära. Heute können sich gerade noch einige wenige ExpertInnen an die Initiative des damaligen Südafrikanischen Präsidenten Thabo Mbeki und Nigerias Präsidenten Olusegun Obasanjo, den Millennium Africa Plan (MAP) im Jahre 2000, oder an die Initiative eines "Marshall-Plan for Africa" erinnern.

In diesem Sinne wäre eine vernunftgeleitete Auseinandersetzung mit der Geschichte der Brenner-Grenze eine gute politische Handlungsanleitung für diplomatische mittel- und langfristige Lösungsstrategien, die über Zollämter und Grenzsperren hinausgehen – mit dem Zusatz, das es sicherlich in der Asyl-, Flüchtlings- und Migrationsfrage heute nicht mehr so viel Zeit gibt wie in der Südtirolfrage.

Zum Autor:
Univ.-Prof. Mag. DDr. Oliver Rathkolb ist Professor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Vorsitzender des internationalen Beirats zur Etablierung eines Hauses der Geschichte Österreich. Er forscht u.a. zur Europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert, Österreichischen und internationalen Zeit- und Gegenwartsgeschichte im Bereich der politischen Geschichte und österreichischen Republikgeschichte im europäischen Kontext.