Flüchtlingspolitik muss zu zukunftsfähiger Gesellschaftspolitik werden

Flüchtlingspolitik muss sich europäisieren. Wieso es dabei nicht nur wichtig ist, staatliche Hilfen zu intensivieren und zivilgesellschaftliche zu erhalten, sondern auch, dass wir alle unseren Umgang mit Ressourcen ändern, erklärt Politologe Ulrich Brand in seinem Gastkommentar zur Semesterfrage.

Der Spätsommer und Herbst 2015 schien die österreichische Gesellschaft stark und in ungeahnter Weise zu verändern. Wer hätte im Voraus die unglaubliche Welle der Solidarität mit den geflüchteten Menschen erwartet? Viele in Österreich lebende Menschen und Hilfsorganisationen zeigten, dass sie das zögerliche Agieren des Staates in dieser dramatischen Situation nicht akzeptieren wollen. Nach der Durchsetzung der Austeritätspolitik der EU gegen Griechenland in der ersten Jahreshälfte schaffte sich Europa ein Stück weit "von unten". Die Regierung hier und jene in vielen Ländern zogen nach.

Staatliche Unterstützungen intensivieren


Auch wenn sich in den letzten Monaten vieles verändert hat, die gesellschaftliche Stimmung zu kippen scheint, doch viele Menschen weiterhin bei uns Schutz suchen werden vor Krieg und Gewalt – sicher ist, dass unsere Gesellschaften grundlegend verändert werden. Verschärfte Grenzkontrollen hin, restriktive Asylverfahren her. In der kritischen Migrationsforschung wird weiterhin von der "Autonomie der Migration" ausgegangen, also davon, dass sich Menschen, die angesichts von Gewalt und Kriegen weitgehend nur noch ihr Leben zu verlieren haben, sich nicht davon abhalten lassen, woanders hinzugehen.

Deutlich ist seit letzten Herbst: Die europäische wie die österreichische Politik, aber auch Verbände und Öffentlichkeit sollten weitsichtig agieren. Es geht darum, die zivilgesellschaftliche Unterstützung zu erhalten und die staatliche zu intensivieren. Ernsthafte Friedensbemühungen sind in Syrien und anderswo notwendig, Flüchtlingspolitik muss sich europäisieren. Die unsolidarischen Dublin-Abkommen, welche die Bürde jenen Ländern aufladen, in denen die Flüchtlinge zuerst ankommen, müssen verändert werden.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016

Der Bevölkerung die Angst nehmen …

Etwas scheint mir in der Diskussion häufig vergessen zu werden. Das Thema Geflüchtete und Migration findet ja nicht losgelöst von anderen gesellschaftspolitischen Entwicklungen statt.
Erstens: Eben diese Entwicklungen erzeugen in vielen Bereichen eher Angst und Unsicherheit, insbesondere bei jenen Bevölkerungsschichten, die sich nicht so gut gegen Angriffe auf ihre Lebensverhältnisse wehren können und die sich häufig von den etablierten Parteien kaum mehr vertreten fühlen.

Daher ist es ein Kernpunkt weitsichtiger Migrationspolitik, der Bevölkerung die Angst vor der Zukunft zu nehmen. Denn die polarisierenden Positionen verweisen darauf, dass es nicht nur um die Flüchtlinge geht, sondern auch um Angst vor oder realen Erfahrungen von Arbeitslosigkeit und Prekarisierung, steigenden Mieten und Wohnungsnot, realen oder drohenden sozialen Einschnitten. Es geht um soziale und insbesondere um Verteilungsfragen, die bislang eher von politisch rechtsextremer Seite "beantwortet" wird – nämlich damit, dass die vielfältigen Probleme am besten mit Abschottung zu bearbeiten seien.

… und unsere ressourcenintensive Lebensweise hinterfragen

Zweitens: Die wohlhabenden Gesellschaften wissen – bei allen Unterschieden innerhalb eben dieser –, dass sie im Hinblick auf die Nutzung globaler Ressourcen, Umweltzerstörung und Klimawandel deutlich "über ihre Verhältnisse leben". Dennoch wird in der Realität der von mächtigen Unternehmen und der Werbebranche vorangetriebene Produktivismus und Konsumismus sowie das wirtschaftspolitische Mantra von "Wirtschaftswachstum um jeden Preis" kaum hinterfragt. Die aktuelle Migration könnte uns zum Umdenken bewegen. Unsere ressourcenintensive Lebensweise ist nicht zukunftsfähig.

Es stellt sich also die Frage einer guten, solidarischen und ökologisch nachhaltigen Zukunft hier und in anderen Teilen der Welt.

Daher bedeutet aus meiner Sicht konkrete Flüchtlingspolitik heute auch zukunftsfähige Gesellschaftspolitik. Den Geflüchteten im Bildungssystem und am Arbeitsmarkt Raum verschaffen, damit die Menschen ein auskömmliches Leben haben. Da geschieht schon einiges. Es könnte aber ergänzt werden um Diskussionen, wie (und wie lange) wir arbeiten, was wir produzieren und konsumieren (wollen) – auch und gerade, um aus dem Hamsterrad des "Immer Mehr" herauszukommen.

Umbau der Lebensweise hin zu einer solidarischen heißt etwa: Eine Kultur des Nutzens und Teilens von Gegenständen ersetzt die aktuelle Kultur des Habens und Habenwollens. Es werden weniger kurzlebige Güter produziert und weniger Ressourcen am Weltmarkt nachgefragt. Mehr Mittel stehen der Gesellschaft zur Verfügung, damit alle ein auskömmliches Leben haben.

Grundlegende Änderungen notwendig

Wir müssen uns selbst viel grundlegender ändern als wir bisher eingestehen. Insofern könnten die jüngsten Erfahrungen der hier ankommenden und Schutz suchenden, sich hier eine Lebensperspektive aufbauenden Menschen auch dafür genutzt werden, unsere Produktions- und Lebensweise umzubauen. So, dass sie nicht mehr die Lebensverhältnisse in anderen Regionen gefährdet und dass sie für alle Menschen hier attraktiv ist, ohne zu Lasten anderer zu gehen oder die Umwelt zu zerstören.

uni:view: Wie beantworten Sie die Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa?"
Ulrich Brand: "Wir wurden bereits früher und werden aktuell in Europa durch die Migration verstärkt in unseren eigenen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen irritiert. Was gilt als selbstverständlich? Ein gewisser Eurozentrismus – und damit die Gefahr der Abwertung anderer Menschen und Gesellschaften. Das ressourcenintensive Wohlstandsmodell – durchaus attraktiv, aber in Europa ungleich und international oft zerstörerisch. Die Migration kann bereichernd wirken und uns dazu bringen, Andere anzuerkennen und ein solidarisches und nicht die natürlichen Lebensgrundlagen zerstörendes Wohlstandmodell zu entwickeln."


Zum Autor:
Univ.-Prof. Dipl.-Bw. Dr. Ulrich Brand ist Professor für Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und war sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Deutschen Bundestages (2011-2013). Aktuell leitet er unter anderem ein vom Österreichischen Klima- und Energiefonds (KLIEN) finanziertes Forschungsprojekt zu Gewerkschaften in der sozial-ökologischen Transformation trafo-labour.univie.ac.at und ein von der Arbeiterkammer finanziertes Projekt zur Verankerung eines fortschrittlichen Wohlstandsindikators in der Wirtschaftspolitik. Im Sommersemester 2016 forscht er als Gastwissenschaftler am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam.