Jubiläen: Zwischen Erinnern und Vergessen

Annegret Pelz, Stephan Müller und Franz M. Eybl vom Institut für Germanistik konzipierten begleitend zur 650-Jahr-Feier der Universität Wien die Tagung "Jubiläum", die vom 9. bis 11. April 2015 ExpertInnen zum gemeinsamen Nachdenken über Historizität und Zeitlichkeitsfiguren einlädt.

uni:view: Seit wann werden Jubiläen gefeiert?
Annegret Pelz: Das Jubiläum geht auf den hebräischen Brauch des "Jobeljahres" zurück. Im Alten Testament sind Jubiläen "Heilige Jahre", die im Rhythmus von fünfzig Jahren mit der Begnadigung von Sklaven oder dem Erlass von Schulden begangen wurden. Diesen Zeitrhythmus übernimmt die katholische Kirche dann im Mittelalter, da kennt sich der Mediävist in unserem Team, Stephan Müller, aus.

Stephan Müller: Die katholische Kirche greift die Praxis der "Heiligen Jahre" allmählich auf. Die Erinnerungsfeier im heutigen Sinn entwickelt sich erst in der modernen Jubiläumskultur an der Schwelle zur Neuzeit. Die großen Gedenktage sind Tage, an denen man innehält und eine Zäsur macht, um über den Verlauf der Zeit nachzudenken. Es gibt die kleinen Zeiteinteilungen, die in der christlichen Kultur eine große Rolle spielen – ein Tag oder eine Woche mit dem heiligen Sonntag. Die Jubiläen sind diese kleinen Zeitfiguren im Großen. Zehn Jahre nimmt man nicht wahr, eine Woche sehr wohl. Die kulturelle Leistung der Jubiläen ist also, dass man die über die eigene Erfahrung hinausgehende Zeiteinteilung zum Gegenstand macht.

uni:view: Sie sind schon bei der Funktion von Jubiläen angekommen. Warum feiern wir Jubiläen?
Franz M. Eybl: Das Jubiläum versucht, etwas am Leben zu halten, und wirkt gleichzeitig identitätsstiftend. Es ist eine Denkfigur, deren Dignität mit dem Anwachsen der Zeit steigt. Das entwickelt sich aus einer kulturellen Haltung heraus und wird mit Festlichkeiten und Gedenktagen verstärkt: Was alt ist, hat sich bewährt.

uni:view: ... oder sich irgendwann überlebt?
Stephan Müller: Manchmal auch überlebt. Funktion der Jubiläen ist auch, dass über Diskurse nachgedacht wird. "Jubel" an sich ist asemantisch, und wird so auch im Mittelalter definiert: Jubel ist der Gesang ohne Verstand. Es stellt sich die Frage, ob man die Sache als solche feiert oder beginnt, darüber nachzudenken. Bei Jubiläen gibt es immer auch Gegenveranstaltungen sowie kritische Selbstreflexionen und deren Sichtbarmachung.

Annegret Pelz: Das zeigt sich zum Beispiel bei dem 650-Jahr-Jubiläum der Universität Wien. Mit Ausstellungen wie "Die bedrohte Intelligenz" oder dem Schwerpunkt Gendergerechtigkeit im Jubiläumsprogramm setzt man sich kritisch mit der Vergangenheit auseinander. Des Weiteren ist das Jubiläum eine gute Möglichkeit für eine Institution wie die Universität Wien, sich in ihrer Vielfalt zu zeigen: alle sozialen und fachlichen Bereiche werden eingebunden.

uni:view: Das Institut für Germanistik steuert eine Fachtagung zum Thema "Jubiläum" bei, die ExpertInnen zu einer "Literatur- und kulturwissenschaftlichen Annäherung aus Anlass der 650-Jahrfeier der Universität Wien" einlädt. Sie sind für die Konzeption verantwortlich, Was war Ihre Idee dahinter?
Franz M. Eybl: Die Tagung konzentriert sich auf zwei Aspekte: Historizität und Zeitlichkeitsfiguren. Wir haben keinen Beitrag, der sich direkt mit dem literarischen Text auseinandersetzt. Wir haben die Textualität, die konkrete Erscheinungsform, überschritten und sind mit dieser Tagung ins Strukturelle hineingegangen – und auch ins Interdisziplinäre: Die insgesamt 14 von uns ausgesuchten RednerInnen stammen u.a. aus der Philosophie, der Soziologie, der Archivwissenschaft und den Kulturwissenschaften. Das soll uns die Möglichkeit geben, Konzepte von Jubiläen entlang vieler Disziplinen zu diskutieren und auch miteinander zu vergleichen. Wir wollen damit den Anstoß zur Reibung geben: zwischen den Verwendungsfeldern und Effekten von Jubiläen.

Stephan Müller: Wir zielen mit dieser Tagung nicht auf Lösungen, vielmehr wollen wir Probleme generieren. Die Denk- und Zeitlichkeitsfigur Jubiläum soll uns helfen, gewisse kulturelle Prozesse besser zu verstehen. Zum Beispiel ist Winfried Müller, Professor für Sächsische Landesgeschichte in Dresden, zurzeit schon an der Universität Wien, um Daten zu sammeln; er verfolgt Spuren im Jubiläumsbüro und trägt Informationen zusammen. Unser laufendes Jubiläum wird also bei dieser Tagung schon zum Gegenstand der Reflexion.

uni:view: Was erwartet die BesucherInnen noch?
Annegret Pelz: Wir haben Vorträge, die sich – aus unterschiedlichen Perspektiven– mit der Geschichte von Jubiläen beschäftigen, damit wir eine Diskussionsgrundlage haben. Beispielsweise Wolfgang Flügel von der Theologischen Fakultät der Universität Halle Wittenberg verfolgt die Spur des Jubiläums im Raum zwischen Alter und Neuer Welt, Deutschland und Amerika, am Beispiel des Reformationsjubiläums, das Lutheraner 1817 in den USA feierten.
Aus dem religionsgeschichtlichen Kontext heraus, geht es dann um Taktungen und deren Effekte. "Die Jahre der Universität sind gezählt", ein Vortrag von Birgit Erdle, Professorin an der Hebrew University of Jerusalem, wird sich mit der Frage des Zeitmessens und der Bedeutung dieser Zahlen befassen. Eine andere Variante der Zeitfolgen ist das Archiv, woraus sich eine Stillstellung, aber auch eine neue Kontroverse ergibt. Das Archiv der Universität Wien beispielsweise ist 2015 regelrecht zum Hotspot geworden. Hierzu wird Irmgard M. Wirtz vom Schweizerischen Literaturarchiv Bern referieren.

uni:view: Die Tagung ist in Ihr aktuelles Projekt "650 Jahre Sprach- und Textkulturen. Das materielle und immaterielle Erbe der Universität Wien" eingebunden. Können Sie es kurz skizzieren?
Franz M. Eybl: Das Projekt läuft seit 2012 unter der Schirmherrschaft der österreichischen UNESCO-Kommission und ist am Institut für Germanistik angesiedelt. Unser Anliegen war, in verschiedenen Jahresthemen die Arbeit am Institut zu beleuchten bzw. die wissenschaftlichen Leistungen des Instituts nach außen zu tragen. Wir haben drei Themen: "Materialität und Raum", "Datum, Ereignis und Zeit" und dieses Jahr eben "Jubiläum." Im Rahmen des Projekts fanden und finden am Institut Vorlesungsreihen, Workshops, Veranstaltungen mit GastprofessorInnen und Konferenzen statt – am Ende werden die Ergebnisse auch in Buchform erscheinen. Wir wollen damit das laufende Jubiläum wissenschaftlich und nachdenkend begleiten. Und dazu dient natürlich vor allem die Tagung im April.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch.


Jubiläum: Literatur- & kulturwissenschaftliche Annäherungen aus Anlass der 650-Jahrfeier der Universität Wien. Das materielle und immaterielle Erbe der Universität Wien
Donnerstag, 9. April 2015, 17 Uhr bis Samstag, 11. April 2015, 12 Uhr
Universität Wien, Marietta-Blau-Saal, Universitätsring 1, 1010 Wien

Die Veranstaltung ist kostenlos; eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

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