Von der Suche nach subversiven Autorinnen der Jahrhundertwende

"Essayistisch, aktivistisch und literarisch", unter diesem Motto erforschen Alexandra Millner vom Institut für Germanistik und ihre Mitarbeiterin Katalin Teller von der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest deutschsprachige Literatur von Migrantinnen in Österreich-Ungarn (1867-1918).

Das im Rahmen des Elise-Richter-Programms des FWF geförderte Habilitationsprojekt von Alexandra Millner von der Universität Wien soll Lücken der österreichischen Literaturgeschichte füllen und mutige Texte vor der Vergessenheit bewahren. Die Germanistin beschäftigt sich schon seit mehreren Jahren mit Kulturen und Literaturen Österreich-Ungarns.

Zu Unrecht vernachlässigt

Als wissenschaftliche Mitarbeiterin tauchte Alexandra Millner bereits in verschiedene literatur- und kulturwissenschaftliche Forschungsprojekte ein, beschäftigte sich sowohl mit Fremd- und Selbstbildern Österreich-Ungarns als auch mit Kultur- und Herrschaftsverhältnissen der k. u. k. Monarchie in Zusammenarbeit mit Wolfgang Müller-Funk und Waltraud Heindl von der Universität Wien.

Dabei entdeckte die junge Forscherin, dass die Autorinnen der Jahrhundertwende vornehmlich in einem biografischen und feministischen Zusammenhang diskutiert werden. Es wird die Person, nicht aber die Künstlerin in den Vordergrund gestellt. Während ihrer Recherchetätigkeit stieß Millner auf "zu Unrecht vernachlässigte Texte von Binnenmigrantinnen, die damalige gesellschaftliche Konventionen herausforderten". Fasziniert von dieser Form der weiblichen Subversion begab sie sich auf die Suche nach weiteren Dokumenten und Zeugnissen eines Gegendiskurses.

Von Märchen über Dramen bis hin zu autobiografischen Schriften

Alexandra Millner widmet sich Werken von so bekannten Autorinnen wie Bertha von Suttner oder Marie Eugenie delle Grazie, ergänzt ihren Korpus jedoch laufend um heute kaum mehr bekannte Namen und Texte. "Es gibt einfach eine gigantische Fülle an Material, das bisher unbeachtet blieb, und es wird Zeit, den tradierten Kanon um talentierte und/oder damals publikumswirksame Autorinnen zu erweitern", merkt die Wissenschafterin an.

Sie schaut sich ein breites Spektrum an Textsorten an – von Märchen, Sagen, Prosa, Lyrik, Dramen, Essays über Zeitschriftenveröffentlichungen bis hin zu autobiografischen Schriften. Es sind gerade die vernachlässigten Dokumente, für die sie sich interessiert. Doch leider sind diese nicht immer problemlos zugänglich, und es braucht viel Geduld und Durchhaltevermögen, um die Texte ausfindig zu machen. Die zielstrebige Wissenschafterin arbeitet daher an einer Datenbank, um ihre Rechercheergebnisse mit KollegInnen teilen und eine Plattform etablieren zu können.


Bertha von Suttner (1843–1914) zählt zu den bekanntesten der im Projekt untersuchten Autorinnen. Das Leben der in Prag geborenen Schriftstellerin war nicht nur in ihrer Jugend von reger Reisetätigkeit gekennzeichnet. 1876 arbeitete sie kurzzeitig als Sekretärin von Alfred Nobel in Paris, die Jahre 1876-1885 verbrachte sie mit ihrem Mann Arthur in Georgien. Das Erlebnis des Russisch-Osmanischen Kriegs (1877-1878) floss in ihren pazifistischen Roman "Die Waffen nieder!"(1889) ein. 1905 erhielt sie als erste Frau den Friedensnobelpreis.


Subversives Potenzial: Marie Eugenie delle Grazie

Alexandra Millner erzählt die Geschichte von Marie Eugenie delle Grazie, einer der prominentesten österreichischen Schriftstellerinnen der Jahrhundertwende. Mit etwa zehn Jahren kam sie aus dem Banat nach Wien, mit 19 bekam sie für ihr Schreiben das Stipendium der Schwestern-Fröhlich-Stiftung, mit 37 war sie nach Arthur Schnitzler die zweite Trägerin des Bauernfeld-Preises. In der Erzählung "Die Zigeunerin" verwertete sie den damals populären Stoff der 'schönen Wilden'. Sie beschreibt ihre Protagonistin aber nicht als berechnende Verführerin, wie es damals in der Literatur üblich war, sondern als einzig moralisch integre Figur der Geschichte. "Das damals beliebte Sujet garantierte ein Lesepublikum, konnte durch Umschreibungen aber auch auf einer subversiven Ebene politisch wirksam gemacht werden", fügt Millner hinzu. Es handelt sich bei Marie Eugenie delle Grazie nur um eine der vielen Autorinnen, die gängige Stereotype in ihrer Literatur in Frage stellen.

Ein transdifferenter Moment

Alexandra Millner erkennt in diesem und anderen Texten sogenannte "Momente der Transdifferenz". Es handelt sich hierbei um ein komplex gedachtes Konzept aus der Soziologie. Transdifferente Momente gehen von einem dynamischen Verständnis der Identität aus. Der Mensch befindet sich demnach in einem Spannungsfeld aus voneinander abhängigen sozialen Kategorien (Geschlecht, Beruf, Konfession, etc.). Je nach Situation ist eine andere Kategorie dominant, die ein erwartbares Verhalten provoziert. In einem transdifferenten Moment wird wider diese Erwartung gehandelt.

Millner analysiert genau diese Momente und versucht – durch eine Gegenüberstellung des Textmaterials mit vergleichbaren zeitgenössischen Texten – das Subversionspotenzial in der Literatur deutschsprachiger Migrantinnen Österreich-Ungarns zu ermitteln.


Dieser Artikel erschien im
Forschungsnewsletter März 2014.

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Interdisziplinärer Ansatz und Methodenmix

Dabei verwendet sie verschiedene Methoden, unter anderem das Close Reading und dekonstruktivistische Vorgehensweisen. Sie stützt sich auf die Theorien der Postcolonial Studies und die der interkulturellen Germanistik. Genau da sieht sie auch ein Forschungsdesiderat des Projekts: Sie möchte Fragestellungen der interkulturellen Germanistik an einem historischen Material anwenden, denn: "Bei neuer Literatur gibt es gewisse Tabus, da die Themen zu nahe an unserer Lebensrealität sind. So üben migrantische AutorInnen heutzutage zum Beispiel wenig Kritik am Aufnahmeland. Historische Forschung lässt einen größeren Spielraum zu und ermöglicht es, die Methoden der interkulturellen Germanistik zu erweitern."

Für Ende November 2014 ist eine internationale Konferenz in Wien geplant. Die Wissenschafterin hofft auf eine Verlängerung ihrer Forschungsarbeit, da "dieses komplexe Thema in drei Jahren nur angerissen werden kann. Es gibt noch viel zu tun!" (il)

Das FWF-Projekt "Transdifferenz in der Literatur deutschsprachiger Migrantinnen in Österreich-Ungarn" unter der Leitung von Mag. Dr. Alexandra Millner läuft im Rahmen des Elise-Richter-Programms noch bis September 2015.