Heinz Faßmann: "Europa ist nicht perfekt, aber unersetzbar"

Im Interview zur Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa?" zeigt sich Heinz Faßmann, Migrationsforscher und Vizerektor der Universität Wien, als "kritischer Optimist": Europa, so ist er sich sicher, wird gestärkt aus dieser neuerlichen Krise hervorgehen.

uni:view: Herr Faßmann, wie beantworten Sie – in einem Satz – unsere Semesterfrage: Wie verändert Migration Europa?
Heinz Faßmann:
Europa wird durch Migration vielfältiger, manche würden sagen bunter, auf alle Fälle jünger – und manchmal auch konfliktreicher.

uni:view: Derzeit möchte man meinen, "konfliktreich" überwiegt. Wie kommt Europa wieder aus dieser Krise?
Faßmann:
Durch die Erkenntnis der Nationalstaaten, dass letztlich nur eine gemeinsame europäische Politik eine dauerhafte Lösung bei der Aufnahme, Unterbringung und Verteilung von Flüchtlingen darstellt.

uni:view: Glauben Sie, dass es zu dieser Erkenntnis kommen wird?
Faßmann:
Das kritisierte Österreich hat mit seinem Alleingang, der aber in Abstimmung mit den Westbalkan-Staaten erfolgte, den Druck in Europa gesteigert, und daher, das muss man auch sagen, die Wahrscheinlichkeit einer gemeinsamen Lösung erhöht. Hätte Österreich das nicht getan, dann wäre die nächste Ratssitzung wohl mehr oder minder genauso ergebnislos verlaufen wie die vielen anderen davor.

uni:view: Dennoch haben Sie die Einführung von Obergrenzen kritisiert.
Faßmann:
Die Obergrenze ist asylrechtlich, wenn der letzte Platz vergeben ist, nicht durchhaltbar. Aber sie ist politisch, um etwas zu erreichen, für mich verständlich. Ich hoffe, dass hier der Zweck die Mittel heiligt und wir tatsächlich dort hinkommen, wo ich gerne hinkommen möchte, nämlich zu einer gemeinsamen europäischen Lösung. Die auf dem Papier ja übrigens seit vielen Jahren existiert, aber von den Nationalstaaten mit einem Federstrich außer Kraft gesetzt wurde. Wäre die EU eine Union, dann wäre das sogenannte Flüchtlingsproblem kein Problem. Denn 1,5 Millionen Flüchtlinge des Jahres 2015 sind 0,3 Prozent der europäischen Wohnbevölkerung. Das wäre leicht zu managen. Das stimmt jemanden, der an Europa glaubt, schon pessimistisch.

uni:view: Sie glauben also weiterhin an Europa?
Faßmann:
Es ist so wie bei der Demokratie, sie ist nicht die beste Regierungsform, aber ich weiß keine bessere. Europa ist nicht perfekt, nicht ideal, aber ich weiß keine Alternative dazu. Der Nationalstaat ist es nicht mehr. Die Probleme und Herausforderungen, mit denen sich die Gegenwartsgesellschaft auseinandersetzen muss, sind eben zunehmend nicht mehr nationalstaatlich begrenzt, sondern es sind internationale, globale Phänomene. Und dementsprechend muss auch die politische Governance-Struktur mitziehen.

uni:view: Wäre die Situation jetzt anders, wenn die Menschen sich mehr als EuropäerInnen fühlen würden?
Faßmann:
Absolut. Zum Vergleich: Auch die Wiener Bevölkerung verspürt eine Solidarität mit Kärnten, beispielsweise in einer schwierigen ökonomischen Situation. Nicht restlos, vermutlich auch gespickt mit Kritik, aber eine Grundsolidarität ist vorhanden. Das wäre bei einem Vorhandensein einer breiten europäischen Identität nicht viel anders, da würde Österreich diese Grundsolidarität für Griechenland empfinden und vice versa. Aber die europäische Identität gibt es nicht bzw. ist sie erst in Ansätzen entwickelt. Dieses Europa ist noch nicht, wenn Sie so wollen, in den Herzen der Menschen angekommen.

uni:view: Und wie bekommt man Europa in die Herzen der Menschen?
Faßmann
: Es gibt schon fruchtbare Initiativen, ich denke da zum Beispiel an die wertvollen Effekte des Erasmus-Programms. Wer als junger Mensch Europa selbst erlebt, der baut nicht nur Vorurteile ab, sondern wird auch ein überzeugter Europäer bzw. eine überzeugte Europäerin. Um diesen Identitätsprozess weiter zu treiben, muss die Kommission verstärkt in solcherlei Aktivitäten investieren, um Europa erlebbar zu machen. Das ist letztlich billiger und wirksamer als diverse PR-Kampagnen. Und die richtige Zielgruppe dieser Aktivitäten sind ohne Zweifel die jungen Menschen.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016

uni:view: Zurück an die Universität: Was ist die Aufgabe der Migrations- und Integrationsforschung in Zeiten wie diesen?
Faßmann: Die Analyse von Migrations- und Integrationsprozessen und dabei das Finden von Regelhaftigkeiten und gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. In Zeiten wie diesen aber auch das Beraten, beispielsweise darüber, wohin bestimmte politische Maßnahmen führen, denn die Forscherinnen und Forscher wissen über die Prozessabläufe oft sehr viel grundsätzlicher Bescheid als die Politik.

uni:view: Lässt sich das vereinbaren, Grundlagenforschung auf der einen, Politikberatung oder Auftragsprojekte auf der anderen Seite?
Faßmann: Wenn man Migrationsforschung betreibt, dann bewegt man sich sofort in einem politischen Rahmen. Sehr häufig auch in einem parteipolitischen Wettbewerb. Das trifft aber auch auf die Naturwissenschaften zu: Wer sich beispielsweise mit dem Klimawandel befasst, ist auch unmittelbar in einem politisch heiß umkämpften Terrain. Da muss man aufpassen, einen kühlen Kopf bewahren, sich immer auch selbst zurücknehmen und reflektieren: Was ist eine einigermaßen objektive Erkenntnis, was ist ein normatives politisches Denken.

uni:view: Wie können ForscherInnen ihr Wissen stärker in die öffentliche Diskussion bringen?
Faßmann: Das müssen sie auf alle Fälle selbst tun. Und es liegt auch in ihrem eigenen Verantwortungsbereich, wie weit sie sich hinauswagen. Die Teilnahme an einem öffentlichen Diskurs ist eine, für die Person, mitunter heikle Angelegenheit. Man wird auch mit Angriffen oder Beleidigungen konfrontiert, beispielsweise im Diskussionsforum zum eigenen Artikel. Da darf man nicht zu sensibel sein. Aber dieses Ausmaß an Robustheit oder Sensibilität kann man niemandem verordnen. Umgekehrt überrascht es mich schon, dass die JournalistInnen nicht öfter den Kontakt zu den Wissenschaftern bzw. Wissenschafterinnen suchen, bevor sie sich in die Debatte einmischen. Über das Asylsystem, über die Genfer Flüchtlingskonvention oder über die Dublin-Verordnung wird oft, aber nicht immer korrekt geschrieben.

uni:view: Ein anderes Thema, das derzeit nicht nur in den Medien diskutiert wird, ist die Integrationsvereinbarung. Sie selbst befürworten eine Kopplung von Sozialtransfers an Leistungen wie beispielsweise das Besuchen eines Deutschkurses. Aber viele WissenschafterInnen sehen das kritisch, als "Deutschzwang" und als Zeichen des Misstrauens.
Faßmann: Ich halte eine Koppelung von Sozialtransfers an die Erbringung von bestimmten Leistungen für berechtigt, auch durchaus im Sinne der Bezieher und Bezieherinnen von Sozialtransfers. Warum soll das Erbringen von bestimmten Leistungen – Deutschkurse, Wertekurse, Nachqualifikation – nicht mit dem Bezug öffentlicher Gelder verbunden sein? Das Wegnehmen oder Kürzen von Sozialleistungen kann allerdings nur innerhalb eines bestimmten Korridors passieren, es macht keinen Sinn, obdachlose Menschen zu produzieren. Und natürlich, wenn man so eine Politik betreibt, dann muss sie für alle gelten, es kann keine "Lex Refugee" geben, keine Maßnahme, die nur für Flüchtlinge gilt. Es muss ein allgemeines Prinzip sein: dass man bestimmte, erwartbare und auch erbringbare Leistungen an den Bezug von Sozialtransfers knüpft.

uni:view: Aber wie schaut es mit der Integrationsbereitschaft der ÖsterreicherInnen aus?
Faßmann: Wie man die Menschen in Österreich so weit bringt, dass sie auch Platz machen für die, die Platz nehmen möchten? Ich glaube sicherlich – und das ist das einzige, das ein Wissenschafter dazu sagen kann – durch Aufklärung. Durch eine Aufklärung, dass Zuwanderung nicht zum kulturellen Ende des Landes führt, sondern ganz im Gegenteil: Eine Form der Zuwanderung, die einigermaßen kontrolliert und auch zahlenmäßig begrenzt ist, ist für dieses Land notwendig angesichts einer demographischen Entwicklung die klar Lücken auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft hinterlässt.

uni:view: Wie schaut Europa in zehn, 20 Jahren aus?
Faßmann: Europa hat die durchaus positive Eigenschaft, sich immer dann, wenn es am Rande irgendwelcher Abgründen steht, zu besinnen, auf die eigene Kraft zu vertrauen, und den Weg zurück zu finden. Ich bin dahingehend ein kritischer Optimist und meine, es wird wie schon in der Finanzkrise auch diesmal gelingen, dass Europa wieder zueinander findet. Und dann haben wir in der Zukunft ein gestärktes Europa, denn die Krise hat die Schwachstellen und Verbesserungsmöglichkeiten offengelegt. Letztlich ist sie daher auch eine Chance.

uni:view: Danke für das Gespräch! (br)