Annette Schellenberg: "Die Bibel ist nicht einfach vom Himmel gefallen"

Annette Schellenberg forscht zur Bibel, genauer: zum Alten Testament. Seit Februar 2015 als Professorin an der Universität Wien. Für die evangelische Theologin ist die Bibel dabei kein dogmatisches "Gesetzbuch", sondern ein Buch, das zum eigenen Nachdenken anregt.

Pfarrerin wollte Annette Schellenberg nie werden. Wohl aber war es auch die soziale Komponente, die die gebürtige Schweizerin zu ihrem Studium der Evangelischen Theologie an der Universität Zürich motivierte. "Daneben haben mich von Anfang an besonders auch die antiken Texte und der Ursprung der Bibel begeistert", erklärt die Wissenschafterin, die seit Februar 2015 Professorin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien ist.

Nächster Halt: Amerika

Nach ihrer Promotion ging die Theologin 2003 mit einem zweijährigen Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds als Visiting Scholar an die University of California, Los Angeles, um nach einem kurzen Zwischenstopp in der Schweiz schließlich 2007 eine Stelle als Assistant (und dann später Associate) Professor am San Francisco Theological Seminary (SFTS) und der Graduate Theological Union (GTU) in Berkeley anzutreten. "Diese Zeit hat mir außerordentlich gut gefallen. Es herrschte ein unkomplizierter und fast schon familiärer Umgang von Studierenden und Lehrenden. Und die GTU ermöglichte den ökumenischen Austausch sowie Kontakte zur UC Berkeley."

Auch wenn sich Annette Schellenberg in Amerika sehr wohl fühlte, verspürte sie nach knapp siebeneinhalb Jahren das Bedürfnis nach einem erneuten Ortwechsel: "Ich wollte auch wieder ein bisschen näher bei meiner Familie in der Schweiz sein", erklärt die Theologin. Für sie als Musikliebhaberin – vor allem Oper und Barockmusik – war Wien nicht nur wegen der Universität, sondern auch aufgrund des kulturellen Angebots reizvoll. (Foto: Privat)

Offene Türen

An ihrem neuen Arbeitsplatz, dem Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie, versucht die 45-Jährige, etwas von dem "amerikanischen Umgang" weiter zu pflegen, den sie in Berkeley kennengelernt hat. "Studierende können jederzeit in mein Büro kommen. Ich habe auch begonnen, einmal im Semester zu mir zum Abendessen einzuladen", schmunzelt Annette Schellenberg, wo die Studierenden übrigens nicht nur von der Professorin, sondern auch von ihrem Kater Leon begrüßt werden.

Die Bibel als Textkorpus

In der Forschung interessiert sich die Alttestamentlerin vor allem für Mentalitätsgeschichte. Durch das Studium der Texte des Alten Testaments versucht sie, dem Denken der alten IsraelitInnen näher zu kommen. "Bei der Textanalyse spielt es für mich zunächst keine Rolle, dass es biblische Dokumente sind, mit denen ich arbeite. Sie sind für mich einfach interessant, weil sie mir Einblicke in vergangene Zeiten ermöglichen. Allerdings habe ich ein besonderes Interesse an theologischen Fragen, z.B. daran, was die antiken IsraelitInnen über den Menschen, über Schöpfung oder über Gott dachten."

Kein Dogma, sondern Vielfalt  

Die oft unterschiedlichen und teils kontroversen Antworten stehen dabei im Fokus: "Die alttestamentlichen Schriften sind miteinander im Dialog, nehmen aufeinander Bezug und widersprechen sich auch oft. Darin spiegeln sich Kontroversen, die zeigen, dass die antiken Menschen um Grundsatzfragen gerungen haben." Dieses Ringen um und Verändern von Positionen fasziniert die Theologin, die selbst durch Reisen und das Eintauchen in fremde Kulturen gerne mal – zumindest ihre geographische – Position ändert: "Die Bibel präsentiert uns nicht 'die Wahrheit'. Sie zeigt uns vielmehr, dass man wesentliche Fragen aus verschiedenen Perspektiven betrachten und dann zu unterschiedlichen Antworten kommen kann. Beachtenswert für mich ist dabei vor allem auch, dass in der Bibel verschiedene Positionen nebeneinander stehen gelassen wurden."

Dieses "Zwischen den Zeilen-Lesen" sowie das Achten auf Widersprüche und Spannungen möchte die sympathische Wissenschafterin auch ihren Studierenden vermitteln und weiß: "Beobachtungsgabe und ein genauer Blick sind nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch sonst im Leben sehr hilfreich."

"Ihre Brüste sollen dich allezeit trunken machen"
Über eine Kontroverse in der Bibel spricht Annette Schellenberg auch in ihrer Antrittsvorlesung am 17. März. Es geht darin um die erotischen Passagen in den alttestamentlichen Weisheitsschriften. Diese werden häufig als Argument dafür genannt, dass auch das (hochgradig erotische) Hohelied eine Weisheitsschrift sei. Annette Schellenberg widerspricht: "Zwar ähneln sich einige Passagen, wenn man aber genauer hinsieht, zeigt sich, dass die Weisheitsschriften die Erotik des Hohelieds zwar aufnehmen, allerdings nicht zustimmend, sondern ablehnend."

Antike Texte als Impulsgeber

Das Bewusstsein für die historische Bedingtheit der Bibel ist Annette Schellenberg wichtig. Gleichsam können die antiken Texte auch heutzutage wichtige Impulse liefern, erklärt sie: "Das Alte Testament nimmt auf viele lebensweltliche Themen Bezug. Beispielsweise Gerechtigkeit, um ein aktuell wichtiges Thema aufzugreifen. Im Alten Testament wird differenziert diskutiert, wie mit Fremden umzugehen sei. Insbesondere die Gesetze zum Umgang mit Fremden, die sich dauerhaft niederlassen, sind dabei ausgesprochen sozial. Hier findet sich einiges, das uns heute wichtige Impulse geben könnte."

Eintauchen in Quellen


Offenheit und die Freiheit des Forschens begeistern Annette Schellenberg auch an ihrem Beruf als Wissenschafterin. "Manchmal passiert es mir, dass ich mich so sehr in einen antiken Text vertiefe, dass ich meine Umgebung vergesse. Dann blicke ich irgendwann auf und merke 'Oh, ich bin ja in Wien'", lacht die Theologin. (mw)

Am Donnerstag, 17. März 2016, um 18 Uhr hält Univ.-Prof. Dr. habil. Annette Schellenberg, stv. Leiterin des Instituts für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie, ihre Antrittsvorlesung zum Thema: "'Ihre Brüste sollen dich allezeit trunken machen' (Prov 5,19). Zum weisheitlichen Umgang mit der Erotik (des Hohelieds?)" im Kleinen Festsaal der Universität Wien. Sie hält ihre Antrittsvorlesung gemeinsam mit Univ.-Prof. Dr. Uta Heil, die zum Thema "Können Christen einen Dialog führen? Zur Streitkultur des spätantiken Christentums" spricht (zum Porträt von Uta Heil).