Willkommen in Europa?
| 11. Juni 2015Abschiebungen empören und verunsichern, sie provozieren und erzeugen Widerstand. Sieglinde Rosenberger, Nina Merhaut und Verena Stern von der Universität Wien untersuchen im DACH-Projekt "Taking Sides" Anti-Abschiebungsproteste in Österreich, Deutschland und der Schweiz über einen Zeitraum von 20 Jahren.
Bernard ist neun Jahre alt, besucht in NÖ die Schule und spielt gerne Fußball – bis ihm und seiner Familie die Abschiebung droht. Die Trainer des Buben, Eltern von MitschülerInnen und FreundInnen engagieren sich mit dem Slogan "Fußball verbindet, aber einer musste gehen!" für das Bleiben der Familie – doch vergeblich: am 21. Februar 2010 muss Bernard K. Österreich verlassen. Die Geschichte dieser Familie K. ist nur ein Fall von Protest, Widerstand und zivilgesellschaftlicher Organisierung gegen Abschiebungen in Europa, die Sieglinde Rosenberger, Nina Merhaut und Verena Stern vom Institut für Politikwissenschaft in ihrem aktuellen Projekt "Taking Sides" untersuchen.
Protest im Längs- und Querschnitt
"Im Projekt interessieren wir uns vor allem für zwei Fragen: Wie entsteht, in einem restriktiven Asylklima, Parteinahme für Flüchtlinge und welches Set an Faktoren und Bedingungen ist es, das letztlich staatliche Behörden dazu bewegt, eine Abschiebung nicht durchzuführen bzw. Politikreformen zu initiieren. Kurzum: Warum können Proteste erfolgreich sein?", so Projektleiterin Sieglinde Rosenberger. Den Forschungsfragen nähern sich die Politikwissenschafterinnen mit einem Zeit- und Ländervergleich: Das DACH-Team untersucht Protestereignisse von 1993 bis 2013 in Österreich, Deutschland und der Schweiz.
Die 1990er Jahre können als das Jahrzehnt der Abschiebungen (zwangsweise Außerlandesbringung) gelten: In Österreich gab es zwischen 7.356 und 10.996 Abschiebungen pro Jahr. Seit 2000 gehen die Abschiebezahlen – auf den ersten Blick – zurück, bedingt durch zwei Entwicklungen: Die Einführung der "Dublin-Überstellung" – Asylsuchende werden in jenes europäische Land rücküberführt, das sie bei ihrer Einreise zuerst betreten haben – sowie die steigende Zahl sogenannter freiwilliger Rückkehrer. (Grafik: Abschiebungen in Ö/BMI)
"Der Länder- und Zeitvergleich ermöglicht das Entstehen und die Dynamik von Protesten, deren AkteurInnen und Repertoires zu erkennen; die Vergleichsperspektive ermöglicht weiters die Rolle von nationalen und lokalen Kontexten, von unterschiedlichen institutionellen Bedingungen, parteipolitischen Konstellationen und politischen Kulturen zu identifizieren", erklärt Projektmitarbeiterin Nina Merhaut.
Medien- und Einzelfallanalysen
Die Proteste erheben und analysieren die Sozialwissenschafterinnen über die Berichterstattung von Protestevents in Qualitätsmedien (für Österreich: "Der Standard" und "Die Presse"). Neben der Medienanalyse werden Einzelfälle rekonstruiert: "Durch in die Tiefe gehende Fallstudien können wir erst den Verlauf und die Auswirkungen von Protest auf Abschiebeentscheidungen verstehen. Wir interviewen Betroffene, UnterstützerInnen, NGOs, Kirchen, PolitikerInnen und JournalistInnen und sichten Flugblätter, Plakate und Online-Daten. Der neunjährige Bernard ist ein Fall, aber auch die Komani-Zwillinge, die im Zuge ihrer Abschiebung in den Kosovo zum 'Gesicht' der Protestbewegung in Österreich geworden sind", erzählt Projektmitarbeiterin Verena Stern.
Asylsuchende erhalten in Österreich die sogenannte Grundversorgung, bestehend aus Sach- und/oder Geldleistungen (ca. 290 Euro pro Monat). Da Asylsuchende während des Asylverfahrens kaum erwerbstätig sein dürfen, ist die Grundversorgung überlebensnotwendig. (Foto: Bundesbetreuungsstelle Nord)
Politische Reformen versus Einzelfall
Ein erstes Ergebnis der umfangreichen Studie: In der Schweiz und in Deutschland werden bei Anti-Abschiebeprotesten deutlich häufiger politische Reformen des Asyl- und Abschieberegimes gefordert als in Österreich. Hierzulande gehen vergleichsweise häufiger Menschen auf die Straße, weil sie eine konkrete Abschiebung verhindern wollen, in Deutschland und in der Schweiz sind diese Aktivitäten tendenziell auch mit politischen Forderungen, die über den Einzelfall hinaus reichen, verbunden.
Zwischen 2006 und 2013 sind österreichweit 119 Protestfälle gegen die Abschiebung bestimmter Personen oder Gruppen zu verzeichnen. Die meisten Protestfälle fanden in Oberösterreich und Wien statt, am wenigsten im Burgenland.
"Die Proteste in Österreich sind stark personalisiert. Die Ziele beziehen sich auf konkrete, persönlich bekannte Fälle: Eine Abschiebung soll verhindert werden", beschreibt Sieglinde Rosenberger: "In Österreich sind diese Proteste kleinräumiger. Flyeraktionen und Menschenketten werden vor Ort unternommen. Interessant ist, dass aber trotzdem eine Reihe von rechtlichen Veränderungen in der Implementierung von Abschiebungen erzielt werden konnte – zum Beispiel in Form von Erlässen und Verordnungen. Interessant ist weiters, dass in Österreich, im Vergleich zu Deutschland und der Schweiz, auch politische FunktionärInnen, Bürgermeister und Mandatarinnen, sich an lokalen Protesten beteiligen."
Soziale Beziehungen als Ressource
Abschiebeverfahren haben sich in der Vergangenheit nicht selten über viele Jahre hingezogen. Zum Zeitpunkt des negativen Aufenthaltsbeschlusses lebten die AsylwerberInnen bereits lange Zeit in Österreich und hatten sich soziale Netze aufgebaut: "Soziale Kontakte sind eine Ressource und wichtiger Auslöser für Anti-Abschiebungsproteste", erklären die Politikwissenschafterinnen. Knapp ein Drittel aller Protest-AkteurInnen kommt aus dem persönlichen Umfeld der Betroffenen.
Und heute?
Sieglinde Rosenberger und ihr Team untersuchen Anti-Abschiebe-Proteste bis 2013. In der Zwischenzeit ist die Asylpolitik mehr denn je umstritten. Die Flucht nach Europa geht weiter, die politischen Konflikte konzentrieren sich auf die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen, auf die europaweite und regionale Verteilung und die soziale Akzeptanz vor Ort. Proteste richten sich gegen Flüchtlingsquartiere, gleichzeitig entstehen neue zivilgesellschaftliche Unterstützungsstrukturen unter dem Motto "Willkommen". "Die Protestthemen verändern sich also, das Feld Asyl bleibt brisant", weiß die Projektleiterin, und hat schon viele Ideen für Folgeprojekte im Kopf. (hm)
Das Projekt "Taking Sides" unter der Leitung von Sieglinde Rosenberger vom Institut für Politikwissenschaften der Fakultät für Sozialwissenschaften wird vom FWF, dem Schweizerischen Nationalfonds SNF und der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG finanziert und läuft von Oktober 2013 bis September 2016 in Kooperation mit der Université de Neuchâtel (Schweiz) und der Universität Osnabrück (Deutschland).