Mehr Sicherheit für Atomkraftwerke

Heuer jährt sich die Reaktorkatastrophe von Fukushima zum fünften, Tschernobyl zum 30. Mal. Gemeinsam mit internationalen KollegInnen hat der Geologe Kurt Decker neue Maßstäbe und Methoden zur Sicherheitsprüfung bei Atomkraftwerken entwickelt, die nun Eingang in europäische Regelwerke finden.

Diskussionen um die Sicherheit von Atomkraftwerken sind so alt wie die Atomkraftwerke selbst. Aber der schwere Unfall im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi in Japan am 11. März 2011 hat gezeigt, dass nicht alle Gefahren vorhersehbar sind. Denn eine derartige Kombination aus starkem Erdbeben und Tsunami, welche die Kernschmelzen in drei Reaktoren des AKWs verursachten, galt zuvor als extrem unwahrscheinlich.

EU-Forschung für mehr Sicherheit


Nun hat das EU-Projekt "ASAMPSA_E" neue Werkzeuge zur Sicherheitsanalyse von Atomkraftwerken vorgestellt. Kurt Decker vom Department für Geodynamik und Sedimentologie der Universität Wien leitet ein Teilprojekt zur Bewertung von Naturgefahren in diesem Forschungsverbund, der vom unabhängigen "Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire" in Paris koordiniert wird.
Beteiligt sind weiters die Technische und Wirtschaftswissenschaftliche Universität Budapest, die Technische Universität Sofia sowie 25 weitere Forschungsinstitute und Partner in Europa, den USA und Japan.

Zwischen Sicherheit und Finanzierbarkeit


Bislang gelten in EU-Ländern klare Regeln, um die Bevölkerung vor Reaktorunfällen zu schützen. Sie begrenzen isolierte Gefährdungspotenziale wie Erdbeben, Überflutungen oder extreme Witterungsbedingungen, beziehen aber Verkettungen von Ereignissen wie im Fall von Fukushima wenig ein. Zudem wird in der Praxis immer auch ein Kompromiss zwischen den Schutzinteressen der Bevölkerung und der Rentabilität der Kraftwerke eingegangen.  

"Atomkraftwerke müssen vor ganz unterschiedlichen möglichen Einwirkungen geschützt sein, die ihnen Schaden zufügen können. Gleichzeitig ist aber auch die Finanzierbarkeit des Kraftwerks ein Kriterium. Überdimensionierte Schutzmaßnahmen, zum Beispiel eine zu hohe Tsunamimauer, wären wiederum nicht rentabel", veranschaulicht Kurt Decker.

Ein statistischer Kompromiss

Orientierung schafft hier ein statistischer Maßstab: "Treten Natur- oder andere Ereignisse seltener als alle 10.000 Jahre in einer Intensität auf, die Kraftwerken gefährlich werden können, müssen sie in den Sicherheitsdesigns nicht berücksichtigt werden", erläutert der Erdbebenexperte, der auch langjährige Erfahrungen mit Gefährdungsanalysen vorweisen kann.

Allerdings ist die Häufigkeit solcher Gefahren schwierig einzuschätzen. "Detaillierte Wetteraufzeichnungen gibt es seit ungefähr 100 Jahren. Tsunamis und Erdbeben werden zwar seit einigen hundert Jahren beschrieben, aber auch auf dieser Grundlage ist keine zuverlässige Aussage über die Gefährdung möglich."

Messung der Katastrophenwahrscheinlichkeit

Während manche WissenschafterInnen historischen Aufzeichnungen über Naturkatastrophen in jahrhundertealten Chroniken nachspüren, ist Kurt Decker einen effektiveren Weg gegangen.
Mit paläoseismologischen Methoden weist er Erdbeben an aktiven Brüchen nach. Das funktioniert so: Starke Erdbeben versetzen die zeitlich jüngsten Erdschichten, die sich nach und nach durch Ablagerungen gebildet haben. Kurt Decker untersucht, wie alt die Ablagerungen sind und wie weit sie sich verschoben haben.

Die Häufigkeit und Stärke von prähistorischen Erdbeben kann er so über einen Zeitraum von 100.000 bis 300.000 Jahren bestimmen. Die Ablagerungen von Tsunamis oder Stürmen erlauben ähnliche Analysen für diese Naturereignisse. Mit seinen ProjektpartnerInnen legt der Geologe nun neue Ergebnisse und Methoden vor, um Gefahren für Kraftwerke einzuschätzen.

Suche nach Gefahrenherden

Der erste Meilenstein war eine detaillierte Erfassung der möglichen Gefährdungen für Kraftwerke, die in das europäische gesetzliche Rahmenwerk übernommen wird. Kurt Decker hat mehr als 90 unterschiedliche Szenarien zusammengetragen, in denen äußere Einwirkungen schwere Reaktorunfälle auslösen können; 70 davon sind Naturereignisse – vom Erdbeben bis hin zu extremen Temperaturen.
Zweitens fertigt er mit seinen KollegInnen ausführliche Richtlinien für die Bewertung der einzelnen Gefährdungspotenziale an, die den aktuellen Stand der Wissenschaft abbilden: Wie häufig treten Erdbeben, Tsunamis oder heftige Stürme tatsächlich in einer bestimmten Region auf? Welchen dieser Einwirkungen können Kraftwerke standhalten und wann kommt es zu einem Unfall?

Die erweiterte PSA erhöht die Sicherheitsstandards

Um aber die Sicherheit einzelner Atomkraftwerke tatsächlich bewerten zu können, haben die ForscherInnen drittens die sogenannte "probabilistische Sicherheitsanalyse" (PSA) erweitert, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens gefährlicher Ereignisse bestimmt.

"Wenn BetreiberInnen ihr Kraftwerk verbessern wollen, müssen sie wissen, wo sie ansetzen können. Sollen sie die Reaktoren etwa eher vor Erdbeben oder Flugzeugabstürzen schützen? Durch die erweiterte PSA weiß man, welche Gefahr am größten ist und welche Gefahren niedrig sind", beschreibt der Wissenschafter den Nutzen der Methode. "BetreiberInnen und Aufsichtsbehörden erhalten eine nachvollziehbare Entscheidungsgrundlage."

Vernetztes Denken in der erweiterten Sicherheitsanalyse


Denn einerseits bezieht die erweiterte PSA unterschiedlichste Gefahrenpotenziale und Standortmerkmale der AKWs ein. Andererseits werden mögliche Ursachen von Reaktorunfällen nicht nur isoliert, sondern auch im Verhältnis zueinander untersucht – eine umfassende Analyse also, die Atomkraftwerke auf den Fall der Fälle hin abklopft. "Kraftwerke", so Kurt Decker, "werden durch die erweiterte PSA teurer, aber auch sicherer. Denn nun können Investitionen in die Sicherheit wirklich  dort eingesetzt werden, wo sie am meisten gebraucht werden." (jr)

Dr. Kurt Decker leitet das Teilprojekt der Universität Wien im Projekt "ASAMPSA_E – Advanced Safety Methodologies: Extended PSA" (Laufzeit: Juli 2013 bis Dezember 2016), das durch das 7. Rahmenprogramm der EU finanziert wird. Er forscht am Department für Geodynamik und Sedimentologie der Fakultät für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie.