Erpressung als Strategie der Evolution

Erpresserische Strategien können sich überraschenderweise gerade innerhalb von Bevölkerungen, die sich langsamer entwickeln, vermehren. Die Mathematiker Karl Sigmund, Christian Hilbe und Martin Nowak haben dazu eine spieltheoretische Studie in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht.

Karl Sigmund beschäftigt sich seit Jahren mit spieltheoretischen Ansätzen und  im speziellen mit der Evolution der Kooperation. Eines der wichtigsten Modelle ist das sogenannte Gefangenendilemma: "Stellen Sie sich zwei Spieler vor, die unabhängig voneinander entscheiden sollen, ob der andere fünfzehn Euro bekommt. Dazu müssen sie dem Spielleiter jeweils fünf Euro bezahlen. Wenn beide kooperieren, erhalten beide unter dem Strich zehn Euro. Aber wenn einer kooperiert und der andere nicht, erhält der Ausbeuter fünfzehn Euro, ganz ohne Gegenleistung. Vom Standpunkt des Eigennutzes wäre es demnach am besten, dem anderen nichts zukommen zu lassen. Aber dann erhalten beide nichts. Das ist ein typisches Sozialdilemma: beide Spieler verzichten auf die Möglichkeit, zehn Euro zu erhalten – und zwar aus Eigennutz", erläutert Sigmund, Professor an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien.


Mit "Spielpläne" hat Karl Sigmund schon im Jahr 1995 ein Buch veröffentlicht, das zu einem beachtlichen Verkaufserfolg geworden ist: Alleine von der englischsprachigen Ausgabe wanderten mehr als 60.000 Stück über die Ladentische. "Derzeit sind sowohl die englische als auch die deutsche Variante vergriffen. Aber erfreulicherweise sind sie nicht vergessen", erklärt der Verfasser. (Foto: Amazon)



Erpresserische Strategien im sogenannten Gefangenendilemma


Das wiederholte Gefangenendilemma, in dem die beiden Spieler über viele Runden miteinander wechselwirken, gilt als das zentrale Modell für die theoretische Untersuchung von Ausbeutung und Kooperation. Kürzlich haben der legendäre Physiker Freeman Dyson und der Kosmologe William Press eine Klasse von "erpresserischen" Strategien vorgestellt, um das wiederholte Gefangenendilemma zu spielen. Der "Erpresser" kann dabei gewährleisten, dass sein Mehrwert immer ein Vielfaches des anderen ist, egal, was der andere macht. Die erpresserischen Strategien werden sonderbarerweise durch sehr einfache Programme bestimmt, die nur vom Ergebnis des vorigen Spielzuges abhängen.

Können sich solche Strategien durch biologische oder kulturelle Evolution innerhalb einer Bevölkerung durchsetzen? Da zwei Erpresser gegeneinander schlecht abschneiden, können erpresserische Strategien nicht häufig werden. Aber Karl Sigmund konnte gemeinsam mit Christian Hilbe vom Max Planck Institut für Evolutionsbiologie und Martin Nowak von der Harvard University (die beide bei ihm "sub auspiciis" promoviert haben) nachweisen, dass  eine winzige Minderheit von Erpressern die Evolution von kooperativen Strategien beschleunigen kann. "Es ist mit einer katalytischen Wirkung vergleichbar", so Sigmund.
Betrachtet man hingegen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Populationen, etwa Wirtsorganismen und Parasiten, so können sich grundsätzlich Erpresser durchsetzen, und die andere Bevölkerung nach Strich und Faden ausbeuten. Paradoxerweise ist dabei jene Bevölkerung im Vorteil, die sich langsamer entwickelt.

"Das sind theoretische Untersuchungen", hält Sigmund fest. Erst empirische Studien könnten zeigen, ob ähnliche Mechanismen wirken, wenn Parasiten ihre Virulenz verlieren und – quasi "gezähmt" – zu Symbionten werden. Sigmund hält es für durchaus möglich, dass bei der Domestizierung der Haustiere ähnliche erpresserische Mechanismen eine Rolle spielen. (af)


Die Publikation 
"Evolution of Extortion in Iterated Prisoner's Dilemma games" (AutorInnen: Christian Hilbe, Martin A. Nowak, Karl Sigmund) erschien im April 2013 in "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS).