Evolution der Kooperation: Welche Rolle spielt Erpressung dabei?

Erpresserische Strategien können sich innerhalb einer Bevölkerung nicht gut ausbreiten, da irgendwann die Wahrscheinlichkeit, auf seinesgleichen zu stoßen, zu groß wird. Anders verhält es sich jedoch bei Wechselwirkungen zwischen zwei verschiedenen Populationen wie zum Beispiel zwischen Wirtsorganismus und Symbionten: Dort können sich erpresserische Strategien sehr wohl vermehren – und zwar überraschenderweise gerade innerhalb jener Bevölkerung, die sich langsamer entwickelt. Die Mathematiker Karl Sigmund von der Universität Wien, Christian Hilbe vom Max Planck Institut für Evolutionsbiologie sowie Martin Nowak von der Harvard University veröffentlichen dazu aktuell eine spieltheoretische Studie in der renommierten Fachzeitschrift "Proceedings der National Academy of Science" (PNAS).

Karl Sigmund beschäftigt sich seit Jahren mit spieltheoretischen Ansätzen und  im speziellen mit der Evolution der Kooperation. Eines der wichtigsten Modelle ist das sogenannte Gefangenendilemma: "Stellen Sie sich zwei Spieler vor, die unabhängig voneinander entscheiden sollen, ob der andere fünfzehn Euro bekommt. Dazu müssen sie dem Spielleiter jeweils fünf Euro bezahlen. Wenn beide kooperieren, erhalten beide unter dem Strich zehn Euro. Aber wenn einer kooperiert und der andere nicht, erhält der Ausbeuter fünfzehn Euro, ganz ohne Gegenleistung. Vom Standpunkt des Eigennutzes wäre es demnach am besten, dem anderen nichts zukommen zu lassen. Aber dann erhalten beide nichts. Das ist ein typisches Sozialdilemma: beide Spieler verzichten auf die Möglichkeit, zehn Euro zu erhalten – und zwar aus Eigennutz", erläutert Sigmund.

Erpresserische Strategien im sogenannten Gefangenendilemma

Das wiederholte Gefangenendilemma, in dem die beiden Spieler über viele Runden miteinander wechselwirken, gilt als das zentrale Modell für die theoretische Untersuchung von Ausbeutung und Kooperation. Kürzlich haben der legendäre Physiker Freeman Dyson und der Kosmologe William Press eine Klasse von "erpresserischen" Strategien vorgestellt, um das wiederholte Gefangenendilemma zu spielen. Der "Erpresser" kann dabei gewährleisten, dass sein Mehrwert immer ein Vielfaches des anderen ist, egal, was der andere macht. Die erpresserischen Strategien werden sonderbarerweise durch sehr einfache Programme bestimmt, die nur vom Ergebnis des vorigen Spielzuges abhängen.

Können sich solche Strategien durch biologische oder kulturelle Evolution innerhalb einer Bevölkerung durchsetzen? Da zwei Erpresser gegeneinander schlecht abschneiden, können erpresserische Strategien nicht häufig werden. Aber Karl Sigmund konnte gemeinsam mit Christian Hilbe und Martin Nowak (die beide bei ihm "sub auspiciis" promoviert haben) nachweisen, dass  eine winzige Minderheit von Erpressern die Evolution von kooperativen Strategien beschleunigen kann. "Es ist mit einer katalytischen Wirkung vergleichbar", so Sigmund.

Betrachtet man hingegen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Populationen, etwa Wirtsorganismen und Parasiten, so können sich grundsätzlich Erpresser durchsetzen, und die andere Bevölkerung nach Strich und Faden ausbeuten. Paradoxerweise ist dabei jene Bevölkerung im Vorteil, die sich langsamer entwickelt.

"Das sind theoretische Untersuchungen", hält Sigmund fest. Erst empirische Studien könnten zeigen, ob ähnliche Mechanismen wirken, wenn Parasiten ihre Virulenz verlieren und – quasi "gezähmt" – zu Symbionten werden. Sigmund hält es für durchaus möglich, dass bei der Domestizierung der Haustiere ähnliche erpresserische Mechanismen eine Rolle spielen.

Publikation in "PNAS":

Christian Hilbe, Martin A. Nowak, Karl Sigmund: Evolution of Extortion in Iterated Prisoner's Dilemma games. In: "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS), April 2013.
ARTICLE #201214834
DOI: www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1214834110

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