"Meine Forschung": Von Bettelzeichen, Judensternen und Obdachlosendreiecken
| 05. Februar 2015Die "Kennzeichnung" von Wohnungslosen sorgte in Frankreich 2014 für Aufregung. Warum – auch gutgemeinte – Kennzeichnungen problematisch sein können, erklärt Sarah Pichlkastner. In ihrer Dissertation am Institut für Österreichische Geschichtsforschung untersucht sie die Geschichte der Bettelzeichen.
Eine Karte mit einem Dreieck in leuchtendem Gelb, in dem ein Thermometer zu sehen ist, das einem Ausrufezeichen ähnelt, sorgte im Dezember 2014 im französischen Marseille für Aufregung. Dahinter verbirgt sich eine von städtischen Behörden und der kommunalen Hilfsorganisation "SAMU sociale" organisierte, gutgemeinte Maßnahme für Obdachlose. An diese wurden "Erste-Hilfe-Karten" ("cartes de secours") ausgegeben, die wichtige Daten über die betreffenden Personen wie Namen, Sozialversicherungsnummer und etwaige Krankheitsgeschichten enthalten. Diese Ausweise sollen die Arbeit von HelferInnen und im Notfall die gesundheitliche Versorgung erleichtern und deshalb auch gut sichtbar um den Hals, an der Kleidung oder am Rucksack getragen werden.
Eine Form der Stigmatisierung
Wenn auch nur als Begleiterscheinung und nicht intendiert, stellen diese Dreiecke eine Form der Kennzeichnung der SDF ("sans domicile fixe"), wie Wohnungslose in Frankreich genannt werden, dar. Die Karten riefen aus mehreren Gründen Empörung hervor. Einerseits erinnere das gelbe Dreieck stark an Judensterne oder an die rosa Dreiecke, die Homosexuelle in Konzentrationslagern zu tragen hatten, andererseits enthalte die Karte sensible persönliche Daten. Darüber hinaus bedeute das empfohlene sichtbare Tragen der Karte eine Form der Stigmatisierung und ein weiteren Schritt Richtung Isolation und Diskriminierung der SDF. Auch ein Obdachloser habe ein Recht auf Anonymität.
Im uni:view-Dossier "Meine Forschung" stellen DoktorandInnen der Universität Wien ihre Forschungsprojekte vor. Das Dossier läuft in Kooperation mit dem DoktorandInnenzentrum.
Farbe Gelb als Ausdruck der Schande
Kennzeichnungen, auch solche mit gutgemeinten Absichten, lassen sich jedoch nicht nur bis in die NS-Zeit, sondern noch viel weiter zurückverfolgen. Bereits im Mittelalter wurden vor allem Randgruppen wie Prostituierte, Henker, KetzerInnen, JüdInnen oder Leprakranke mit einem Kennzeichen versehen. Die mögliche Bandbreite reichte dabei von bestimmten Kleidungsstücken (graue Lepramäntel, gelbe Schleier für Prostituierte usw.) über gewisse Accessoires (etwa die "Lepraklapper" oder Glöckchen für Prostituierte) bis hin zu Abzeichen bzw. Zeichen (beispielsweise Judenabzeichen). Dabei spielte die Farbe Gelb als Ausdruck der Schande eine wichtige Rolle. Solche "Stigma-Symbole", die auch in der Frühen Neuzeit Verwendung fanden, sollten eine diskriminierende (im Sinne von unterscheidbar) und/oder diffamierende Wirkung haben.
Bettlerzeichen als "Schandzeichen"
Einem ähnlichen Zweck, wie ihn laut der Verantwortlichen die Obdachlosenzeichen haben sollten, dienten die so genannten Bettlerzeichen oder Bettelzeichen: Beide sollten eine Form der Unterstützung darstellen. Bettlerzeichen kamen in spätmittelalterlichen Städten ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts auf und stellten eine Kennzeichnung für BettlerInnen mit offizieller Bettelerlaubnis dar. Die Almosen sollten auf diesem Weg zu den wirklich Bedürftigen, den "würdigen" Armen, gelenkt werden.
Diese teilweise nicht nur beim Betteln, sondern ständig zu tragenden Zeichen, die ihrer Intention nach eine Auszeichnung darstellten, waren jedoch gleichzeitig Zeichen der Stigmatisierung und Marginalisierung. Der Straßburger Armenpfleger Alexander Berner brachte die Diskrepanz zwischen Absicht und Wirkung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts folgendermaßen zum Ausdruck: "Es ist das zeichen, das do ein zeichen der lieb solt sein [...], zum schandzeichen worden, das man einen dester mider trawt und nit mer arbeit geben will". Die negativste Wirkung hatten die Bettelzeichen jedoch für die "Unwürdigen", die nun keine Almosen mehr erhalten sollten.
Ab der zweiten Hälfte des 16. Jh. hießen Bettelzeichen "Stadtzeichen": Aus Metall gegossene Abzeichen, die vermutlich mittels Ösen oder wie Knöpfe an der Kleidung anzubringen waren. Während sich in verschiedenen Städten – beispielsweise in Münster (im Bild) – derartige Bettelzeichen erhalten haben, konnte für Wien bisher keines ausfindig gemacht werden. (Foto: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster)
Wie in vielen europäischen Städten waren Bettelzeichen auch in Wien zu finden. Sie lassen sich zum ersten Mal in der Bettelordnung des Jahres 1443 nachweisen. Beim "Bettelzeichen" handelte es sich damals vermutlich um gelbes Tuch, das um den Hals getragen wurde. Aus Metall gegossene "Stadtzeichen" hat man in Wien bisher nicht gefunden.
Das Ende der "StadtzeichnerInnen", wie die TrägerInnen der Zeichen genannt wurden, kam im Jahr 1693, als ein allgemeines Bettelverbot in der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt erlassen und das Großarmenhaus in der Alser Straße gegründet wurde, in das die bisher "legal" Bettelnden aufgenommen werden sollten.
Neue Forderung nach "Bettlerlizenzen"
Auch im Österreich der Gegenwart scheinen Maßnahmen wie in Marseille oder auch die Wiedereinführung von Bettelzeichen nicht gänzlich abwegig. In Salzburg, wo im Frühling 2014 die Diskussionswogen besonders hochschäumten, oder auch in der Steiermark wurden vor allem seitens der ÖVP Forderungen nach "Bettlerlizenzen" bzw. "Erlaubnisscheinen" laut. In beiden Bundesländern war nach Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofes das generelle Bettelverbot 2012 bzw. 2013 aufgehoben worden, so dass stilles Betteln jetzt wieder erlaubt ist. Während in Salzburg das Verbot seit den 1970er Jahren bestanden hatte, war jenes in der Steiermark erst 2011 eingeführt worden. Bis zur Strafrechtsreform der 1970er Jahre war Betteln in ganz Österreich aufgrund eines noch aus Monarchiezeiten stammenden Gesetzes allgemein untersagt gewesen.
Problematische "Etikettierung"
Bei all diesen "innovativen" und "zeitgemäßen" Lösungsansätzen verwundert es fast, dass bisher noch nicht die Verwendung von Bettelzeichen gefordert wurde, wodurch für PassantInnen und vor allem Spendenfreudige auf den ersten Blick festzustellen wäre, ob die Bettelnden offiziell geprüft worden sind und somit über eine Art "Spendengütesiegel" verfügen. Alleine die Vergabe von Bettellizenzen wäre jedoch wahrscheinlich aufgrund des damit einhergehenden Verbots stillen Bettelns für alle ohne Lizenz verfassungswidrig, während gleichzeitig die administrative Umsetzbarkeit mehr als fraglich erscheint.
Dass die "Etikettierung" von Personen am Rand der Gesellschaft problematisch ist, machen die Erfahrungen der Vergangenheit deutlich. Dies gilt auch dann, wenn der intendierte Zweck nicht in Ausgrenzung und Diffamierung, sondern in Unterstützung liegt.
Sarah Pichlkastner, geboren 1986 in Oberndorf bei Salzburg, ist Absolventin des Diplomstudiums Geschichte und des Masterstudiums "Geschichtsforschung, Historische Hilfswissenschaften und Archivwissenschaft" an der Universität Wien, Auslandssemester an der Université François Rabelais in Tours/Frankreich, derzeit Doktoratsstudium und Mitarbeit im FWF-Projekt "Personal, Insassen und Organisationsform des Wiener Bürgerspitals in der Frühen Neuzeit" am Institut für Österreichische Geschichtsforschung unter der Leitung von Martin Scheutz.
Literaturtipp zum Thema:
Open-Access-Version des Buches von Sarah Pichlkastner über Wiener Bettelzeichen.
Sarah Pichlkastner, Das Wiener Stadtzeichnerbuch 1678–1678. Ein Bettlerverzeichnis aus einer frühneuzeitlichen Stadt (Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 12, Wien–Köln–Weimar 2014).