Wirtschaft-Nobelpreis 2017: "Menschen sind nicht vollständig rational und eigennützig"

Der Wirtschaft-Nobelpreis 2017 geht an den US-Forscher Richard H. Thaler für seine Beiträge zur Behavioral Finance. uni:view hat bei Volkswirt Jean-Robert Tyran von der Universität Wien nachgefragt, welche Rolle psychologische Faktoren in der Ökonomie spielen.

uni:view: Herr Tyran, was sagen Sie als Volkswirt zur Nobelpreiszuerkennung an Richard H. Thaler?
Jean-Robert Tyran:
Endlich! Der Preis ist höchst verdient. Richard Thaler ist schon zweimal gewissermaßen zu kurz gekommen. Thaler war einer der Begründer der Behavioral Finance, d.h. der verhaltensökonomischen Forschung über Finanzmärkte. Diese untersucht, wie beschränkte Rationalität das Verhalten von Finanzmärkten beeinflusst. Im Jahr 2013 hat Robert Shiller, ein Pionier dieser Forschungsrichtung, sich den Preis mit zwei anderen Ökonomen geteilt, die nicht aus dem Bereich der Verhaltensökonomie stammen. Hätte es damals einen Preis ausschließlich für Behavioral Finance gegeben, hätten ihn sich Shiller und Thaler geteilt. Im Jahr 2002 hatte sich Daniel Kahneman, einer der Begründer der Verhaltensökonomie, den Preis mit Vernon Smith, einem Pionier der Experimentalökonomik geteilt. Hätte es damals einen Preis ausschließlich für Verhaltensökonomie gegeben, wäre er an Kahneman und Thaler gegangen (Amos Tversky war zu dem Zeitpunkt ja leider schon verstorben).

uni:view: Richard H. Thaler wurde für seinen Beitrag zur Verhaltensökonomik ausgezeichnet – was verbirgt sich dahinter?
Jean-Robert Tyran:
Es geht generell um die Berücksichtigung psychologischer Faktoren in der ökonomischen Entscheidungsfindung. Menschen sind nicht so vollständig rational und eigennützig, wie das die Volkswirtschaftslehre üblicherweise angenommen hat. Vielmehr fällen Menschen in gewissen Situationen systematisch verzerrte Entscheidungen. Ein wichtiges Talent von Thaler ist, dass er diese Einsichten so klar und unterhaltsam präsentieren kann, dass es (fast) jedem einleuchtet. Das wird sehr schön deutlich in seinem auch für Laien sehr lesenswerten Buch "Misbehaving".

uni:view: Sie forschen selber seit Jahren auf dem Gebiet "Ökonomie und Psychologie". Was bedeutet die Vergabe des Nobelpreises für Ihr Forschungsfeld?
Jean-Robert Tyran:
Der Nobelpreis bedeutet eine weitere wichtige Anerkennung unseres Forschungsgebietes. Sie kann helfen, dieses wichtige Forschungsgebiet in der Öffentlichkeit noch bekannter zu machen. Es wäre schön, wenn ÖkonomInnen der alten Schule diesem Forschungsgebiet nun die Beachtung und die Neugierde entgegenbringen, die es verdient. Mich würde besonders freuen, wenn der Preis auch junge Menschen begeistern könnte, auf diesem spannenden Gebiet zu forschen.

VERANSTALTUNGSTIPPS:
Am 10. Oktober 2017 um 18.30 Uhr ist die Verhaltensökonomin Iris Bohnet von der Universität Harvard zu Gast, die in ihem Vortrag "What works Wie Verhaltensdesign die Gleichstellung revolutionieren kann" (auf Deutsch) erklären wird, wie man verhaltensökonomische Einsichten nutzen kann, um Geschlechtergerechtigkeit in der Wirtschaft zu befördern.
Oesterreichische Nationalbank Kassensaal
Otto-Wagner-Platz 3
1090 Wien
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Am 14. November 2017 um 18.30 Uhr wird der britische Ökonom Andrew Oswald von der Universität Warwick (auf Englisch) erklären, inwiefern uns die Arbeit (un)glücklich macht und was man daraus für wirtschaftspolitische Schlüsse ziehen sollte.
Arbeiterkammer Wien
Plößlgasse 2
1040 Wien
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uni:view: Wie unterscheidet sich Ihr Forschungsfeld von dem des Nobelpreisträgers und was sind die Gemeinsamkeiten?
Jean-Robert Tyran:
Es gibt zwar viele Gemeinsamkeiten, aber auch einige Unterschiede. Meine Forschung zur Geldillusion und zur Verlustaversion hat z.B. einen klaren Bezug zur Forschung von Thaler. Ich erforsche aber auch Vertrauen, Kooperation, demokratische Entscheidungen sowie Besteuerung und Umverteilung aus einer verhaltensökonomischen Perspektive. Diese Faktoren haben in der Forschung von Thaler eine eher untergeordnete Rolle gespielt.

uni:view: Was bleibt – trotz Nobelpreis – in diesem Forschungsfeld noch zu tun?
Jean-Robert Tyran:
In der Verhaltensökonomik gibt es noch sehr viel zu erforschen, z.B. in den oben genannten Bereichen. Wir haben aber auch schon einiges an Erkenntnissen über Verhaltensökonomik und deren nutzbringende Anwendung gewonnen. Diese Erkenntnisse sind aber noch nicht so weit verbreitet, wie man das hoffen würde. Meine KollegInnen am Wiener Zentrum für Experimentelle Wirtschaftsforschung (VCEE) haben vor kurzem das Vienna Behavioral Economics Network gegründet. Dieses bezweckt, Brücken von der Wissenschaft in die Praxis zu schlagen, und Anwendungen der Verhaltensökonomie für Wirtschaft, Gesellschaft und Staat aufzuzeigen.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (red)

Jean-Robert Tyran ist Professor für Finanzwissenschaft an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Experimentelle Ökonomik, Ökonomie und Psychologie sowie Finanzwissenschaft. (Foto: Universität Wien/Barbara Mair)