Wie wahrscheinlich ist der Zufall?

Mit seinen Studierenden wettet er, dass er den Zufall "erkennt", und als guter Citoyen meldet er sich gerne medial zu Wort – z.B., wenn wieder einmal Halbwahrheiten zum Thema "Schuldenbremse" kursieren. "Wenn man weiß, wie es geht, ist alles leicht", sagt Finanzmathematiker Walter Schachermayer.

uni:view: Herr Schachermayer, wie wahrscheinlich ist der Zufall?
Walter Schachermayer: Vielen Menschen erscheint es unglaublich, dass die Mathematik sich mit so etwas wie "Wahrscheinlichkeiten" beschäftigt. Auf den ersten Blick steht dies im Gegensatz zu ihrem Ruf als exakte Wissenschaft! Aber man weiß seit langem, dass sich über Wahrscheinlichkeiten sehr präzise Aussagen treffen lassen, die zum Teil sogar recht kontraintuitiv sind.

uni:view: Lässt sich der Zufall imitieren?

Schachermayer: Das ist gar nicht so leicht! In meiner Einführungsvorlesung zur Wahrscheinlichkeitstheorie gebe ich gerne folgende Hausaufgabe: Die Hälfte der Studierenden wirft 200 Mal eine Münze in die Luft und dokumentiert das Ergebnis. Die anderen tun nur so, als ob sie die Münze geworfen hätten, indem sie, quasi nach Zufallsprinzip, 200 Mal entweder Kopf oder Zahl notieren. Meine Wette mit den Studierenden ist nun, dass ich herausfinde, wer wirklich eine Münze geworfen hat und wer nur "so getan hat als ob".

uni:view: Und, gewinnen Sie?
Schachermayer: Mit erstaunlicher Sicherheit und zur Verblüffung der Studierenden. Was dahintersteckt, ist keineswegs Zauberei oder besonders hohe Mathematik. Sondern klassische Abschätzungen über geeignet gewählte Teststatistiken, mathematisch ausgedrückt.

uni:view: Warum haben Sie die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Zufalls für die Plakat-Kampagne zum 650-Jahr-Jubiläum der Universität Wien – das unter dem Motto "Wir stellen die Fragen" steht – ausgewählt?
Schachermayer: Weil vieles in meiner eigenen Forschung mit Wahrscheinlichkeitstheorie zu tun hat. Die Frage "Wie wahrscheinlich ist der Zufall?" ist der Versuch, dieses spannende und sehr aktive Forschungsfeld, in dem sowohl in der Theorie als auch in den Anwendungen laufend Neues passiert, in einfachen und auch etwas provokanten Worten zu umschreiben.

uni:view: Die Wahrscheinlichkeitstheorie blickt ja auch auf eine recht lange Geschichte zurück.
Schachermayer:
Wir Finanzmathematiker freuen uns, dass bereits im Jahr 1900 von einem gewissen Louis Bachelier ein zentrales Konzept der Wahrscheinlichkeitstheorie mathematisch präzise analysiert wurde. Er war damit fünf Jahre früher dran als Albert Einstein und Marian Smoluchowski, die dieses Konzept im Rahmen der Physik untersucht haben.

uni:view: Welches Konzept war das?
Schachermayer: Habe ich das noch gar nicht gesagt? Die sogenannte Brownsche Bewegung, benannt nach dem Biologen Robert Brown. Sie modelliert die zufällige Bahn eines Teilchens, das ständig von anderen Teilchen angestoßen wird. Louis Bachelier untersuchte dieses Konzept im Rahmen seiner Dissertation mit dem schönen Titel "Théorie de la Spéculation". Darin verwendete er die Brownsche Bewegung als Modell für die Kurse von Wertpapieren, und sein Ziel war es, eine rationale Theorie der Bewertung von Optionen auf diese Wertpapiere zu entwickeln. In den 1970er Jahren haben die mathematischen Ökonomen Black, Scholes und Merton dieses Modell weiterentwickelt. Ihre mathematische Formel zur Bestimmung von Optionspreisen wurde 1998 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet.

uni:view: Woran forschen Sie zurzeit?
Schachermayer: Das ist in wenigen Sätzen schwer zu beantworten. Ein konkretes Beispiel vielleicht. In der klassischen Theorie der Optionsbewertung, über deren Entstehungsgeschichte wir gerade gesprochen haben, geht man von einer Reihe idealisierender Annahmen aus. Etwa vernachlässigt man die Rolle von Transaktionskosten, wie zum Beispiel einer Tobin Tax – einer Finanztransaktionssteuer. Ein moderner Strang von Forschungen beschäftigt sich nun damit, die Auswirkungen solcher Transaktionskosten genauer zu analysieren. Das führt aus mathematischer Sicht zu durchaus heiklen Fragestellungen. Und mit solchen beschäftige ich mich.

uni:view: Wie kann man sich das vorstellen, wenn Sie über solche Probleme nachdenken? Ganz klassisch mit Papier und Bleistift?
Schachermayer: Mein Stil ist, dass ich durchaus in der Straßenbahn oder am Abend zu Hause nachdenke, wozu nicht einmal Bleistift und Papier notwendig sind. Das ist der mathematische Alltag: Man beschäftigt sich intensiv mit einem offenen Problem und versucht zu jeder Tages- und Nachtzeit darüber nachzudenken. Die Stunde der Wahrheit kommt natürlich dann, wenn man die Sachen aufschreibt. Die Mathematik ist eine Sprache, die es einem unmöglich macht, sich unklar auszudrücken. Beim "Übersetzen" der Ideen in diese Sprache merkt man sehr rasch, ob man einen Denkfehler gemacht hat oder nicht. Anton Zeilinger hat das mal sehr treffend formuliert: "Geniale Ideen haben eine sehr kurze Halbwertszeit. Die meisten überleben die erste Nacht nicht."

uni:view: Klingt irgendwie nach einer recht einsamen Tätigkeit?
Schachermayer: Nachdenken muss man natürlich alleine. Aber bei uns passiert sehr viel im Team. Mathematische Publikationen entstehen zum überwiegenden Teil in Zusammenarbeit mehrerer Autorinnen und Autoren. Das gemeinsame Arbeiten an Problemen ist für uns Mathematiker ein ähnliches Vergnügen wie die Kammermusik für klassische Musiker. An unserer Fakultät sind glücklicherweise viele hervorragende Mathematikerinnen und Mathematiker, wir haben auch zahlreiche internationale Kontakte, insgesamt ist die Mathematik ja ein großes Weltdorf. Wir diskutieren sehr viel und jeder bringt seinen Hintergrund und sein Wissen ein. Die Fakultät für Mathematik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr gut entwickelt und bietet ganz konkrete Möglichkeiten der Zusammenarbeit, das Umfeld ist inspirierend. Es ist auch psychologisch einfacher, gemeinsam über einem schwierigen Problem zu brüten.

Privat ist es natürlich schon so, dass man manchmal etwas abwesend ist, wenn die Gedanken bei der Mathematik sind. Meine Familie beklagt sich öfters, wenn ich wieder mal ins Narrenkastl schau, wie das auf gut Wienerisch heißt.

uni:view: Was treibt Sie an?
Schachermayer: Es ist die Neugierde und die Herausforderung, ob man ein schwieriges Problem lösen kann. Dabei bleibt es dann aber nie: Wenn man ein Problem löst, tun sich sofort weitere Fragen auf. Je größer das Wissen ist, umso größer sind auch die Ränder des Wissens, die noch unbekannten Bereiche.

uni:view: Man kommt also nie an?
Schachermayer: Man kommt schon an. Aber unsere Aufgabe als Wissenschafter besteht ja genau darin, immer weiterzumachen. Vielleicht kennen Sie den Spruch aus der Schule: In der Mathematik ist alles ganz leicht – wenn man weiß, wie es geht. Genau darum geht es.

uni:view: Können Sie ein Beispiel von einem solchen Ergebnis aus Ihrem Fach nennen, das heute etwas wesentlich erleichtert, z.B. auf dem Finanzmarkt?
Schachermayer: Lieber nicht. Wissen Sie, die Ergebnisse der Finanzmathematik sind wie geschaffen dafür, von der Öffentlichkeit falsch verstanden oder interpretiert zu werden, wenn man versucht, sie in wenigen Worten zu erklären. Aber, auf einen kurzen Nenner gebracht: Ich versuche, mathematische Methoden weiterzuentwickeln, die es erlauben, Risiken besser zu quantifizieren und in robuster Weise einzugrenzen.

uni:view: Andererseits kennt man Sie auch als jemanden, der sich aktiv in den Medien zu Wort meldet, wenn zu viele Halbwahrheiten um ein Thema kreisen, wie etwa zur "Schuldenbremse" oder zur Erbschaftssteuer.
Schachermayer: Als Staatsbürger im Sinne eines Citoyen haben wir die Pflicht, uns zu Themen von allgemeiner Relevanz zu Wort zu melden, wenn wir aus fachlicher Perspektive etwas dazu zu sagen haben. Ich schreibe etwa einmal pro Jahr einen Kommentar in der Tagespresse. Das hat dann aber nur am Rand mit Mathematik zu tun.

Hier ein Beispiel. Es ist eine mathematische Binsenweisheit, dass die Summe der Schulden gleich der Summe der Geldforderungen ist. Jedem Euro Schulden steht irgendwo auf der Welt eine Forderung von einem Euro gegenüber. Wenn man daher dafür eintritt, dass die Schulden weniger werden – was ich vehement tue – muss man auch dafür eintreten, dass die Forderungen, also die monetären Vermögen, weniger werden. Um das einzusehen, ist keine hohe Mathematik nötig. Nichtsdestoweniger denke ich, dass es auch meine Aufgabe als Finanzmathematiker ist, auf logische Notwendigkeiten wie diesen Zusammenhang zwischen Forderungen und Schulden öffentlich hinzuweisen.

uni:view: Was wünschen Sie der Universität zum 650. Geburtstag?
Schachermayer: Alles Gute für die nächsten 650 Jahre! (lacht). Aber lassen Sie es mich konkreter formulieren. Es ist ein weltweiter Trend, dass Exzellenz in der Forschung hoch geschätzt wird und hier spielt die Universität Wien in Österreich eine hervorragende Rolle. Ich wünsche mir, dass die Universität die positive Entwicklung der vergangenen zwei, drei Jahrzehnte weiter ausbauen kann.

uni:view: Haben Sie einen persönlichen Favoriten im Jubiläums-Programm?
Schachermayer: Ich bin sehr beeindruckt von den Vorbereitungen, insbesondere von der Auftaktveranstaltung. Ich denke mir, dass die Universität Wien die Gelegenheit nutzen wird, sich und ihre Geschichte gut zu präsentieren. Als Beispiel möchte ich die Ausstellung zum Wiener Kreis (Anm.: von Mitte Mai bis Ende Oktober 2015 im Hauptgebäude der Universität Wien) nennen, die von Karl Sigmund und Friedrich Stadler mit viel Engagement zusammengestellt wird. In den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat der Wiener Kreis – aufbauend auf der Tradition von Ernst Mach und Ludwig Boltzmann – eine Verbindung zwischen Mathematik und Philosophie geschaffen, die weltweit einzigartig war. Leider hat diese Sternstunde der Wiener Universität wie so vieles andere im März 1938 geendet.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch!



Über Walter Schachermayer:
Walter Schachermayer ist Professor für Finanzmathematik an der Universität Wien. Im Jahr 1998 wurde er mit dem Wittgenstein-Preis ausgezeichnet, 2009 erhielt er den Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC), in dessen Rahmen er die Rolle von Transaktionskosten auf Finanzmärkten analysiert. Er ist Mitglied der Deutschen nationalen Akademie der Naturforscher Leopoldina und Ehrendoktor der Université Paris Dauphine.
Schachermayer befasste sich zunächst mit Funktionalanalysis und später mit stochastischer Analysis und deren Anwendungen in der Finanzmathematik. Bekannt wurde er in Fachkreisen vor allem durch seine gemeinsamen Resultate mit Freddy Delbaen über Martingalmaße und no-Arbitrage (Fundamental theorem of asset pricing). Er befasste sich auch mit Portfolio-Optimierung und Finanzmarktmodellen unter Transaktionskosten.

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