Werden wir aus der Geschichte klug?
| 02. April 2015Warum zerfallen Imperien, wie entstehen neue Völker und Staaten? Wie bilden sich Identitäten heraus und welche Auswirkungen haben Phänomene wie Migration auf die Gesellschaft? Historische Beispiele können uns helfen, diese Prozesse zu verstehen, so der Historiker Walter Pohl im uni:view-Interview.
uni:view: Herr Pohl, warum stellen Sie gerade die Frage "Werden wir aus der Geschichte klug?"
Walter Pohl: Es geht mir darum, die Rolle der Geschichte in der heutigen Öffentlichkeit zu hinterfragen und gleichzeitig aufzuzeigen, was sie für die Gesellschaft leisten kann. Hier gibt es ein Spannungsverhältnis: Auf der einen Seite besteht ein breites öffentliches Interesse an geschichtlichen Themen, auf der anderen Seite aber auch ein gewisses Unverständnis dafür, was die Geschichte eigentlich erforschen soll und zu welchem Nutzen. Dabei gibt es noch so viel, das wir aus der Geschichte lernen könnten!
uni:view: Zum Beispiel?
Pohl: Viele brennende Fragen der Gegenwart können wir nur mit einer gewissen Kenntnis von tiefergehenden geschichtlichen Zusammenhängen sinnvoll beantworten und verstehen. Diese lassen sich in vereinfachter, verkürzter Form nicht korrekt darstellen. Gerade das passiert aber oft im öffentlichen Diskurs und in der Berichterstattung der Massenmedien, etwa wenn Pauschalisierungen wie "der Islam" oder "die Ausländer" verwendet werden. Hierin liegt meiner Meinung nach eine große Gefahr. Deshalb ist es mir ein persönliches Anliegen, auf dieses Spannungsverhältnis hinzuweisen und klarzustellen, dass die Dinge wesentlich komplizierter sind, als sie vielleicht auf den ersten Blick erscheinen.
uni:view: Ist es die Aufgabe der Wissenschaft, in solche Diskurse einzugreifen, um die Dinge genauer zu erklären und vielleicht sogar richtig zu stellen?
Pohl: Man könnte sagen, dass die Diskussion in der Öffentlichkeit in Schwarz-Weiß geführt wird, während wir die Dinge in der Wissenschaft in Farbe betrachten. Ich sehe es deshalb als eine der wichtigen Funktionen der Geisteswissenschaften in der heutigen Zeit, Fragen zu vertiefen, Antworten zu differenzieren und ein verfeinertes Verständnis anbieten zu können. Man muss sich aber auch darauf einlassen, die Dinge in ihrer gesamten Komplexität zu verstehen.
uni:view: Haben Sie eine Antwort auf Ihre Frage parat?
Pohl: Als ich mir diese Frage überlegt habe, hatte ich ein Zitat von Ingeborg Bachmann im Hinterkopf, die einmal gesagt hat: "Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler". Ich würde das zwar nicht ganz so negativ sehen, bin aber prinzipiell eher skeptisch, was einen Lerneffekt betrifft. In der aktuellen politischen Diskussion werden komplizierte Zusammenhänge wie gesagt gerne stark vereinfacht dargestellt. Dadurch werden wichtige historische Erfahrungen im Grunde einfach beiseite gewischt.
uni:view: Gibt es auch Beispiele, wo Sie sagen würden: "Ja, hier hat man tatsächlich aus der Geschichte gelernt"?
Pohl: Ja, trotz meiner generellen Skepsis sehe ich auch positive Beispiele. So ist etwa in Deutschland nach 1945 klar, dass ein Lernprozess stattgefunden hat. Man hat gelernt, dass Chauvinismus, die Verachtung bestimmter Menschengruppen und zugespitzte Feindbilder verheerende Folgen haben können, wenn man sie politisch salonfähig macht. Die Erfahrung des Nationalsozialismus hat in Deutschland also dazu geführt, dass bestimmte Dinge – zumindest öffentlich – nicht mehr laut gesagt werden. Man darf nicht vergessen, dass die Bundesrepublik heute eines der wenigen europäischen Länder ist, in dem keine rechtspopulistische Partei im Parlament sitzt. Die historische Erfahrung hat die politische Kultur im Nachkriegsdeutschland eben wesentlich beeinflusst.
uni:view: Aber insgesamt hält sich die Lernbereitschaft der Menschheit in Grenzen …
Pohl: Ich hoffe sehr, dass sich meine Skepsis abbaut. Mein Eindruck ist allerdings, dass die Tendenz eher immer stärker in Richtung von vereinfachten Debatten geht, die einen tatsächlichen Lerneffekt erschweren oder sogar verunmöglichen. Die Schere zwischen der wissenschaftlichen Perspektive und der politischen Diskussion öffnet sich leider zusehends. Das ist eigentlich das Gegenteil von dem, was man erreichen will.
Videoantwort von Walter Pohl
Historiker Walter Pohl spricht im Video über zerfallene Imperien, neue Identitäten, Völker oder Staaten und erklärt warum sich durch die Geschichte aktuelle und zukünftige Geschehnisse besser verstehen lassen.
uni:view: Wie lernen Sie aus Ihrer Forschung?
Pohl: Einer meiner Forschungsschwerpunkte ist das Thema Migration zur Zeit der Völkerwanderung, also im Mittelalter (4. bis 6. Jahrhundert). In dieser Auseinandersetzung haben mein Team und ich sehr viel darüber gelernt, was Migrationen auslöst, wie sie verlaufen, von welchen Faktoren sie beeinflusst werden und welchen Einfluss sie wiederum auf die Gesellschaft haben. Diese Dinge lassen sich nicht in zwei, drei Sätzen erklären und vermitteln. In heutigen Debatten zum Thema Migration wird viel gröber und oberflächlicher darüber diskutiert, was auch dazu führt, dass oft automatisch negative Aspekte in den Vordergrund treten. Doch schon das Beispiel des antiken Roms hat gezeigt, dass Migration nichts Negatives sein muss. Auch dort gab es regen Zustrom von Menschen aus anderen Regionen. In gewisser Weise ist der Erfolg des Römischen Reiches sogar darauf zurückzuführen, dass es diesen Zustrom überhaupt gab und Integration möglich war.
uni:view: Was kann man aus der historischen Epoche, zu der Sie forschen, z.B. über die Themen Integration und Toleranz zwischen Menschen mit unterschiedlicher Herkunft oder Religion lernen?
Pohl: Im 3. Jahrhundert wurde von Kaiser Marcus Aurelius Severus Antoninus die sogenannte "Constitutio Antoniniana" verfügt. Diese Verordnung besagt, dass sämtliche freien Bewohner des Imperiums das römische Bürgerrecht erhalten sollen – eine Geste, die heutzutage wohl keine Partei bei der nächsten Wahl überleben würde.
Auch was die Toleranz gegenüber anderen Religionen betrifft, gibt es einiges zu lernen. Wir führen gerade ein interdisziplinäres Projekt in unserem Spezialforschungsbereich "Visions of Community" durch, an dem ExpertInnen aus verschiedenen Fachrichtungen mitarbeiten. Es geht darin um die Phase des Mittelalters zwischen 400 und 1.500 n.Chr., in der sich die westliche christliche und die östliche islamische Welt auseinander entwickelt haben. Zu dieser Zeit war die Toleranz gegenüber anderen Religionen in der islamischen Welt interessanterweise deutlich größer als im Christentum. Christliche Staaten haben seit dem Mittelalter nicht geduldet, dass innerhalb ihrer Landesgrenzen größere Gruppen von Muslimen siedeln. Umgekehrt war das aber sehr lange sehr wohl der Fall. Dieser Umstand wird heute oft einfach vergessen. Das sind Traditionen, an die man heute wieder stärker anschließen könnte.
uni:view: Wie kommen Sie zu Ihren Erkenntnissen?
Pohl: Als Historiker arbeite ich hauptsächlich mit Texten. Natürlich kooperiere ich aber auch stark mit anderen Fachgebieten wie beispielsweise der Archäologie, wo andere Formen von Quellen und Materialien bearbeitet werden. Das Mittelalter wird zwar oft als "dunkles Zeitalter" beschrieben, von dem nur relativ wenige Überlieferungen in der Geschichtsschreibung erhalten geblieben sind. Tatsächlich haben wir aber eine durchaus beeindruckende Zahl von Texten für unsere Analysen zur Verfügung. Wichtig ist, dass man diese Zeitdokumente stets vor dem jeweiligen spezifischen historischen Hintergrund betrachten muss. Die Definitionen und Bedeutungen von Begriffen wie "Volk" oder "Migration" können sich im Laufe der Zeit stark verändern. Diesen Umstand muss man bei seinen Überlegungen miteinbeziehen.
uni:view: Wie lernen Sie selbst aus der Geschichte?
Pohl: Die Zeit, mit der ich mich in meiner Forschung beschäftige, ist zwar eine völlig andere als unsere heutige. Ich glaube aber generell, dass wir auch aus lange vergangenen Zeiten etwas lernen können. Man muss aber auch vorsichtig sein: Ich bin Experte für eine bestimmte historische Epoche und kann zu diesem Thema fundiert wissenschaftlich argumentieren. Ich bin aber kein Experte für die heutigen Verhältnisse. Wenn ich mich zu diesen äußere, spreche ich nicht mehr als Wissenschafter, sondern als jemand, der versucht, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, wie Gesellschaften funktionieren, auf die Gegenwart anzuwenden. Aus dem "fernen Spiegel" der Vergangenheit kann ich Distanz zu den kurzatmigen Aufregungen der Medien gewinnen und leichter sehen, was dahinter steht.
Natürlich kann ich meine Wissenschaft nicht nur von neun bis fünf betreiben. Die Themen, die mich in meiner Forschung beschäftigen, beschäftigen mich praktisch andauernd – auch privat. Hinzukommt, dass meine Frau auch Mittelalterforscherin ist. Da werden beim Abendessen regelmäßig auch wissenschaftliche Themen erörtert.
uni:view: Sie haben vor einigen Jahren einen Ruf an das Institut for Advanced Study in Princeton abgelehnt – immerhin jenes Institut, wo auch Albert Einstein gesessen ist. Aber Sie sind an der Universität Wien geblieben.
Pohl: Dieser Ruf war eine große Ehre. Trotzdem bin ich in Wien geblieben, auch weil ich hier Möglichkeiten vorfinde, die ich in den USA nicht gehabt hätte. Hier kann ich ein größeres Team von jungen ForscherInnen gründen und über Drittmittelprojekte finanzieren, um ein Forschungszentrum aufzubauen, das international wahrgenommen wird. Diese Form der Finanzierung wäre an US-Unis in den Geisteswissenschaften nur schwer umsetzbar.
In meinem Forschungsbereich ist Wien sicherlich einer der interessantesten Standorte Europas, und es gibt hier ausgezeichnete Kolleginnen und Kollegen an der Universität und der Akademie der Wissenschaften, die großes internationales Renommee besitzen. Unser Spezialforschungsbereich ist der einzige geisteswissenschaftliche seiner Art und als solcher gerade bis 2019 verlängert worden. NachwuchswissenschafterInnen bietet er eine hervorragende Gelegenheit, interdisziplinär zusammen zu arbeiten und ständig neue Impulse aus anderen Bereichen zu bekommen. Wien hat als Standort natürlich auch den Vorteil, dass die Stadt sehr beliebt ist. Es ist recht leicht, gute Leute hierher zu bekommen.
uni:view: Was wünschen Sie der Universität Wien zum 650-Jahr-Jubiläum?
Pohl: Wir alle wünschen der Universität mehr Geld, damit sie sich mehr Spielraum sowohl in der Lehre als auch in der Forschung eröffnen kann. Ich bin ein großer Verfechter der persönlichen Vermittlung in der Lehre und halte etwa nicht viel von dem neuen Trend zu Online-Massenkursen. Der persönliche Kontakt zwischen Lehrenden und Studierenden ist enorm wichtig und durch nichts zu ersetzen.
Abschließend muss ich sagen, dass ich mich natürlich gerade als Historiker sehr freue, an einer Universität lehren und forschen zu können, die auf eine derart lange Tradition zurückblicken kann. Die Universität Wien ist ja immerhin eine der ältesten in Europa.
uni:view: Vielen Dank für das Gespräch!
Über Walter Pohl:
Walter Pohl ist Professor für Geschichte des Mittealters und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien und Sprecher des FWF-Spezialforschungsbereiches "Visions of Community: Comparative Approaches to Ethnicity, Region and Empire in Christianity, Islam and Buddhism (400-1600)". Seit 1998 ist er Leiter des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2004 wurde er mit Wittgenstein-Preis ausgezeichnet, 2012 erhielt er den ERC Advanced Grant der EU.
Die Forschungsschwerpunkte des Historikers umfassen die Verwandlung der römischen Welt und die Reiche des Frühmittelalters, ethnische Prozesse und Identitäten zwischen Antike und Mittelalter, die "Völkerwanderung" und andere Migrationen, Geschichtsschreibung und ihre Überlieferung, frühmittelalterliche Gesetzbücher, Geschichte der Steppenvölker und Geschichte und Kulturgeschichte Italiens bis um 1000 n.Chr.
Wir stellen die Fragen. Seit 1365.
Unter den WissenschafterInnen der Universität Wien aller Epochen gibt es große Vorbilder, die dazu ermutigen, Fragen zu stellen und mit den Antworten die Welt zu verändern. Sieben ForscherInnen der Universität Wien erzählen uns stellvertretend von ihrer persönlichen Antwortsuche.
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