Was passiert gerade in Aleppo? Menschenrechtsexperte Manfred Nowak im Interview
| 15. Dezember 2016Im Osten Aleppos sind noch immer zehntausende Menschen eingeschlossen. Eine Evakuierung soll aktuell beginnen, allerdings wurde diese schon einmal abgebrochen. Für uni:view beantwortet Menschenrechtsexperte Manfred Nowak Fragen über die Situation, die Hintergründe und die Rolle der EU.
uni:view: Herr Nowak, was passiert gerade in Aleppo?
Manfred Nowak: Aleppo ist der traurige Höhepunkt eines jahrelangen Krieges zwischen Regierungstruppen, die von Russland und dem Iran unterstützt werden, und insgesamt 28 Rebellengruppen, die am 13. Dezember schließlich ihren Widerstand aufgegeben haben und sich in Gebiete unter der Kontrolle der Aufständischen zurückzogen. Die Schlacht um Aleppo wurde mit immer brutaleren Mitteln geführt, die jeglichen Respekt für das humanitäre Völkerrecht und Mindeststandards der Menschenrechte vermissen lassen. Die vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eingesetzte hochrangige Untersuchungskommission hat schon bisher schwerste Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit festgestellt und wird im Jänner einen weiteren Bericht vorlegen, in dem sie die jüngsten Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung in Aleppo aufzeigen wird. Dazu gehören gezielte Angriffe auf Krankenhäuser und Hilfskonvois, der Einsatz verbotener Waffen sowie zahlreiche Exekutionen von Zivilisten, einschließlich Frauen und Kinder.
uni:view: Warum greift niemand ein – beispielsweise der UNO-Sicherheitsrat?
Nowak: Russland hat seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2011 das Assad-Regime unterstützt und durch sein Veto im Sicherheitsrat das einzige Gremium der Vereinten Nationen, das die Macht gehabt hätte, eine Ausweitung des Bürgerkriegs zu verhindern, lahmgelegt. Die USA haben die gemäßigteren Rebellengruppen unterstützt und ebenso wie die Regionalmächte Iran, Saudi-Arabien und die Türkei zu einer Internationalisierung dieses Bürgerkrieges beigetragen. In dieser Situation konnten sich zunehmend auch extremistische Gruppen wie der "Islamische Staat" und verschiedene Ableger von al-Kaida ausbreiten und die Zivilbevölkerung terrorisieren.
uni:view: Wie wird es in Syrien weitergehen?
Nowak: Es gibt eine gewisse Hoffnung, dass die Kapitulation der Rebellen in Aleppo, die Stärkung des Assad-Regimes durch die Rückeroberung strategisch wichtiger Städte und Gebiete und der Regierungswechsel in den USA zu einem Ende des Bürgerkriegs zwischen dem Assad-Regime und den gemäßigteren Rebellengruppen unter Vermittlung der Vereinten Nationen führen könnten. Die Macht terroristischer Gruppen ist zwar zurückgegangen, aber noch lange nicht gebrochen: Bis zu einem wirklichen Frieden wird noch ein weiter Weg zu gehen sein.
uni:view: Wie werten Sie Statements wie beispielsweise von Christian Kern (Screenshot Facebook) in Bezug auf den Umgang mit Flüchtlingen und dem Asylgesetz (Stichwort: Asyl-Obergrenze)?
Nowak: Ich stimme diesen Aussagen vollinhaltlich zu. Durch die beispiellosen Gräueltaten und Verbrechen an der Zivilbevölkerung sind aus Syrien in den letzten fünf Jahren mehr Menschen geflüchtet als aus allen anderen Staaten. Der Großteil dieser Flüchtlinge hält sich derzeit in der Türkei, im Libanon und in Jordanien auf, aber immer mehr Menschen versuchen auch die gefährliche Flucht nach Europa. In einer derartigen Ausnahmesituation sollte die Solidarität und Hilfsbereitschaft gegenüber diesen verzweifelten Menschen stärker wiegen als die Angst vor Ausländern und Fremdenfeindlichkeit. Asyl-Obergrenzen verletzen nicht nur europäisches Asylrecht, sondern auch Grundwerte wie Solidarität und Mitmenschlichkeit.
uni:view: Wie kann jede/r von uns helfen? Bzw. können wir denn überhaupt helfen?
Nowak: Die österreichische Zivilgesellschaft hat anlässlich der großen Flüchtlingswelle im Herbst 2015 in geradezu vorbildlicher Weise gezeigt, wie sehr wir alle gemeinsam imstande sind, auch größere Mengen an Flüchtlingen zu versorgen und unterzubringen, wenn wirklich alle staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen (Regierung, Polizei, Bundesheer, Gemeinden, ÖBB, Medien, Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz, die Caritas, Diakonie oder Volkshilfe, bis hin zum Engagement vieler Einzelpersonen) an einem Strang ziehen und miteinander praktische Flüchtlingsarbeit leisten. Leider war diese großartige Hilfsbereitschaft nur von kurzer Dauer. Aber eine wirklich dauerhafte Lösung kann nur im Rahmen der Europäischen Union gefunden werden, wenn die Regierungen bereit wären, nicht gegeneinander, sondern miteinander eine wirklich gemeinsame europäische Asylpolitik zu konzipieren und auch zu vollziehen. Wenn der Libanon als kleiner Staat in der Lage ist, Millionen von Flüchtlingen zu versorgen, dann sollte es auch die Europäische Union mit ihren 500 Millionen EinwohnerInnen schaffen, in einer Ausnahmesituation wie jener in Syrien ein paar Millionen Flüchtlinge aufzunehmen. (red)
Univ.-Prof. Dr. Manfred Nowak, LL.M. (Jg. 1950) studierte Rechtswissenschaften in Wien und New York. Er ist Professor für Internationales Recht und Menschenrechte an der Universität Wien, Leiter des Forschungszentrums Menschenrechte an der Universität Wien sowie Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte. Von 2004 bis 2010 war er UN-Sonderberichterstatter über Folter. (Foto: Barbara Mair/Universität Wien)