Von Wien nach … Tallinn
| 13. Dezember 2016Das "digitale Vorzeigeland" Estland setzt voll auf die Vorzüge der Digitalisierung. Vom Einkaufen bis zum Wählen, von der Jagd bis zur Steuererklärung, mobiles Internet ist allgegenwärtig. Einblicke in den E-Alltag gibt Alumnus Fabian Weiß.
Wohnort: Tallinn, Estland
Beruf: Selbstständiger Fotograf
Absolvent der: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Theater-, Film- und Medienwissenschaft
univie: Woran merken Sie, dass Sie in einem digitalen Vorzeigeland leben?
Fabian Weiß: Die Einstellung der EstInnen zur Digitalisierung unterscheidet sich massiv zu den deutschsprachigen Ländern. Alle Daten über eine Person sind hier mittels einer einzigen Nummer abrufbar, das würde bei uns einen Aufschrei erzeugen. Die EstInnen hingegen sehen die praktische Seite, wenn sie etwa auch die Aktionspunkte der Supermärkte auf Ihrer ID-Karte sammeln können und so weniger Karten mit sich tragen müssen. Anstatt Schweißausbrüche wegen der Steuererklärung zu bekommen, klicken die EstInnen ein paar Häkchen an und scannen ihre Belege bequem ein. Die Akzeptanz von bargeldlosem Zahlen schätze ich sehr. Ich muss etwa an den Strand kein Geld mitnehmen, das Eis kann ich per Telefon kaufen, bezahlt wird über die Abrechnung. Ein weiterer Vorteil ist der Ausbau des mobilen Datennetzes – ich kann hier selbst im tiefsten Wald, Kilometer entfernt vom nächsten Dorf, per Skype telefonieren.
univie: Sehen Sie auch Nachteile?
Weiß: Nachteile sehe ich kaum, solange es in einem demokratischen System geschieht und die Politik den BürgerInnen wohlwollend gegenübersteht.
univie: Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Weiß: Skype ist hier ein gutes Stichwort, denn die Software dafür wurde von Esten entwickelt und ist der Rockstar unter den Start-ups. Dieser Erfolg hat viele EstInnen dazu bewogen, selbst digitale Start-ups zu gründen, und die Regierung zog mit Programmen mit. Als das Land vor 25 Jahren unabhängig wurde, hat die Regierung die Chance gewittert und eine flächendeckende Digitalisierung der Schulen vorangetrieben. Es gab einen totalen Umbruch. Die Sowjetunion war für die meisten EstInnen ein gewaltsamer Okkupator. Alles konnte nun geändert werden und das wollte man auch – in der Anfangszeit der digitalen Ära.
Fabian Weiß machte 2011 seinen Abschluss an der Universität Wien. Als Student war sein Lieblingsplatz das kleine Kammerl der Theater-, Film- und Medienwissenschaft im Michaelertrakt in der Hofburg. (Foto: Privat)
univie: Wie erleben Sie die Praxis von E-Demokratie und E-Voting in Estland?
Weiß: Wahlen sind in Estland recht beliebig und durch die politische Landschaft wenig spannend. Sie werden in der Bevölkerung kaum diskutiert. Während man in Österreich schon im Vorfeld von Wahlen weiß, so muss man in Estland aufpassen, dass man sie nicht verpasst. Es wird kaum plakatiert und direkt vor dem Wahltag ist der Wahlkampf auch verboten. Junge EstInnen sind weniger politisch orientiert als Deutsche oder ÖsterreicherInnen. In der Sowjetzeit war politisches Engagement unterdrückt, dies wirkt bis heute nach.
Durch die Einfachheit der Wahl scheint der Wahlgang für die EstInnen eher einem Gang zum Supermarkt zu ähneln als einer wichtigen Entscheidung für die nächsten Jahre. Etwas, was man als guter Bürger oder gute Bürgerin macht, aber ohne viel Herz und Zeit zu investieren. Chipkarte anstecken, online gehen, Partei anklicken, fertig. Die Wahlbeteiligung liegt mit relativ konstanten 62 % im europäischen Mittelfeld und hat sich durch die Digitalisierung nur marginal gesteigert. Die EstInnen sind relativ entspannt gegenüber neuen Technologien, nach dem Motto "wenn es mir hilft, Zeit zu sparen, dann ist es gut". Da es auch keine starke Front im linken oder rechten Spektrum gibt, empört sich allenfalls die Opposition leise über die Unsicherheit des E-Votings – und wird in der Gesellschaft überhört. Pannen gab es bisher nicht.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in univie, dem Alumnimagazin der Universität Wien. Lesen Sie hier die gesamte aktuelle Ausgabe November-März 2016 mit der Coverstory "Sammellust. Crowdsourcing und Citizen Science: Was Bürger/Innenbeteiligung im Web bringt".
univie: Stichwort Digital divide – gibt es auch in Estland Unterschiede in der digitalen Beteiligung?
Weiß: Bei der letzten Parlamentswahl lag die Wahlbeteiligung auf dem Land nur minimal unter der Wahlbeteiligung in der Stadt. Und auch sonst scheint das digitale Leben vor dem Land weniger haltzumachen als in Deutschland oder Österreich, eher im Gegenteil: Durch die schlechte Infrastruktur auf dem Land ist man dort umso eher auf digitale Dienste angewiesen. Gerade im Agrar-Bereich suchen EstInnen nach digitalen Lösungen: Der Bienenstock wird digital überwacht, zur Jagd koordiniert man sich per Mobiltelefon millimetergenau. Und dass Eltern oder Großeltern nicht auf Facebook sind, kommt hier kaum vor. (red)
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