Sikhismus in Wien

8.000 bis 10.000 Sikhs leben in Österreich – doch der Sikhismus ist in Österreich bis heute keine anerkannte Religionsgemeinschaft. Im Rahmen einer Tagung der Universität Wien besuchten die TeilnehmerInnen die Wiener Sikh-Gemeinde und diskutierten alte und neue Herausforderungen.

Im November fand an der Universität Wien unter Leitung von Areshpreet Wedech und Wolfram Reiss eine Tagung zum Sikhismus statt, einer Religion, die in Forschung und Medien eher marginal behandelt wird. Da Österreich sie bisher nicht als Religionsgemeinschaft anerkennt, ist sie auch in den meisten Darstellungen der religiösen Vielfalt Österreichs nicht vertreten und kaum in die interreligiösen Dialogprozesse eingebunden. Zum Bedauern vieler Sikhs: Die Überwindung von religiösen Grenzen gehört zu den Grundanliegen des Sikhismus. Schon Guru Nanak (ca. 1469-1539), ihr Religionsstifter, hat sich vehement gegen die Trennung von Muslimen und Hindus ausgesprochen.

Zu Gast in Gebetsstätten der Sikhs

Die Tagung an der Universität Wien beschäftigte sich mit der Geschichte und Kultur der Sikhs, mit ihren Schriften sowie der Philosophie. Texte und Gebete aus dem Guru Granth Sahib, dem heiligen Buch der Sikhs, wurden gelesen und analysiert. Daneben wurden zwei Besuche in Gurudwaras durchgeführt. Das erste Gespräch fand im Gurdwara Nanaksar (22. Gemeindebezirk) statt, um mit einem Granthi (die Person, der in einem Gurdwara für den religiösen Teil verantwortlich ist) und einem Kathakar (einem Interpreten des Sri Guru Granth Sahibs) zu sprechen. Beim zweiten Besuch besuchten wir das Bandi Chhor Diwas Fest im Gurdwara Guru Teg Bahadur Sahib Ji (23. Gemeindebezirk), wo kürzlich eine afghanische Sikh-Community eine neue Gebetsstätte eröffnete.

Das Bandi Chhor Diwas Fest wird zum gleichen Zeitpunkt wie das hinduistische Diwali-Fest gefeiert, allerdings mit anderem Inhalt: Während das hinduistische Diwali ein Lichterfest ist, das je nach Region mit verschiedenen Gottheiten in Verbindung gebracht wird, erinnert das Bandi Chhor Divas Fest an die Freilassung des sechsten Guru, Guru Hargobind, aus dem Gefängnis, in das ihn der Mongolenherrscher Jahangir gesteckt hatte.

Traumatische Geschichte und Tabus

Interessant an diesem Seminar waren nicht nur die authentischen Eindrücke, die man durch die Gespräche erhalten konnte, sondern auch die Beschäftigung mit Spezialthemen, die normalerweise in Einführungen zum Sikhismus kaum behandelt werden. So beschäftigten wir uns z.B. ausführlicher mit dem "Dritten Ghallughara", dem Massaker, das im Rahmen der "Operation Bluestar" 1984 in Amritsar, einer Millionenstadt im indischen Bundesstaat Punjab, stattfand und das nach der Ermordung Indira Ghandis zu landesweiten Pogromen an Sikhs über eine ganze Dekade führte, in deren Zusammenhang viele Sikhs (ca. 3000 nach indischen Angaben und ca. 11.000 Sikhs nach Sikh-Angaben) getötet wurden. Dieses traumatische Ereignis hat dazu geführt, dass sich viele Sikhs um eine autonome oder gar völlig von Indien losgelöste Region, "Khalistan", bis heute bemühen. Die Aufarbeitung dieser traumatischen Geschichte wird bis heute in Indien weitgehend tabuisiert.

Sikhismus in Österreich


Mittlerweile prägen Sikh-Männer mit ihren kunstvoll gebundenen bunten Turbanen und ihren langen Bärten auch das öffentliche Bild in Österreich. Der Sikhismus ist rein nach Mitgliederzahlen weltweit die viertgrößte Weltreligion und mit ca. 8.000 bis 10.000 Gläubigen und drei Gurdwaras in Wien und mehreren Gemeinschaften in allen größeren Städten in Österreich durchaus präsent. Gursharan Singh Mangat gab über die soziale Struktur der Sikh-Gemeinde in Österreich Auskunft und referierte über die bis jetzt erfolglosen Bemühungen, den Status einer anerkannten Religionsgemeinschaft zu erlangen.

Der Sikhismus ist im 15. Jahrhundert in Nordindien entstanden und gehört zu den monotheistischen Religionen. Weltweit hat der Sikhismus zwischen 25 und 27 Millionen AnhängerInnen (vorwiegend in Indien) und ist damit die viertgrößte Weltreligion. Das Guru Granth Sahib ist das heilige Buch des Sikhs, für Gebete und Zeremonien kommen sie traditionell in Gurudwaras zusammen.

Die Rolle der Frau im Sikhismus

Der Höhepunkt war schließlich noch der öffentliche Vortrag von Areshpreet Wedech über die Rolle der Frau im Sikhismus: Frauen seien in der Geschichte des Sikhismus bedeutsam, würden heutzutage aber in zahlreichen Bereichen aus fadenscheinigen Gründen von bestimmten Ämtern und rituellen Handlungen ausgeschlossen. Im Unterschied zu den abrahamitischen Religionen, in denen ein stark patriarchales Rollenverständnis in den Heiligen Texten zunächst einmal zementiert ist, von dem man sich nur schwer befreien könne, seien in den Heiligen Texten der Sikhs eindeutige Stellungnahmen zur absoluten Gleichwertigkeit von Frauen vorhanden, die unbedingt wiederentdeckt werden müssten.

Bedeutung der Kopfbedeckung

Die Sikhs spielen auch bei der derzeitigen Diskussion um das Kopftuchverbot in Schulen eine wichtige Rolle. Es wird nämlich zu wenig bedacht, dass vermutlich auch Sikhs davon betroffen wären. Jugendliche mit ihren Patkas, den Kopfbedeckungen, die wie ein Strumpf über den Kopf und den Haarknoten gezogen werden, fallen in der Schule auf.  Es handelt sich um ein strenges Gebot, dass Jungen und Männer ihre Haare nicht schneiden und immer bedecken. Im österreichischen Heer wurde deswegen 1993 sogar eine Sondererlaubnis für den Turban und das Tragen eines Bartes gegeben. Wie will man aber Sikhs, die wegen religiöser und politischer Verfolgung in Afghanistan hier in Österreich Asyl gefunden haben, erklären, dass man ihnen dieses grundlegende Recht auch in ihrer neuen Wahlheimat verweigern will? Sie werden dies unweigerlich als Diskriminierung und massive Einschränkung der grundlegendsten Freiheit der Religionsausübung verstehen.
  
Kleine Minderheit, große Vielfalt

In der Religionswissenschaft wird der Sikhismus eher "stiefmütterlich" behandelt - traditionell konzentrieren sich Forschung und Lehre eher auf die abrahamitischen Religionen, den Buddhismus und Hinduismus. Die Vielfalt der Themen, die Einblicke in Geschichte und Kultur einer Religion, die meist nur marginal behandelt wird, macht deutlich, dass es wichtig ist, kleine Minderheiten in der Forschung stärker mit zu berücksichtigen und näher zu betrachten.

Wolfram Reiss ist Universitätsprofessor für Religionswissenschaft und Vorstand des Instituts für Systematische Theologie und Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät. Zu seinen Schwerpunkten gehören u.a. Islam, Orientalisches Christentum, Judentum, Ägyptische Religion; Schulbuchforschung und Curriculumsrevision zur Darstellung anderer Kulturen und Religionen in Europa und in der islamisch-arabischen Welt; Herausforderungen für Institutionen und Religionsgemeinschaften durch die Migration. (© Universität Wien)