Selbstzeugnisse von Frauen - Die Sammlung Frauennachlässe

Etwa 80 Jahre nach dem ersten Frauentag wurde im Jahr 1990 die "Sammlung Frauennachlässe" von Edith Saurer am Institut für Geschichte gegründet. Seitdem fungiert sie in Form von Archiv und Forschungsstätte als "Sprachrohr der Erinnerungen von Frauen". Zahlreiche Diplomarbeiten, Dissertationen, Forschungsprojekte und Publikationen bauen inzwischen auf den aktuell in 161 Beständen archivierten Nachlässen von 258 Personen auf. "uni:view" sprach mit der Leiterin Christa Hämmerle und der Mitarbeiterin Li Gerhalter über die Sammlung und ihre aktuellen Entwicklungen.

uni:view: Die Bestände der Sammlung haben sich seit dem ersten Bericht in der Online-Zeitung innerhalb von acht Jahren fast verdreifacht. Wie erklären Sie sich den Erfolg?
Christa Hämmerle: Die "Sammlung Frauennachlässe" wird viel genutzt und ist in der internationalen Forschungslandschaft etabliert. Entscheidend war dafür sicherlich unsere Eingliederung in die 2006 eingerichtete Forschungsplattform "Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext. Vernetzung - Ressourcen - Projekte", die von Edith Saurer geleitet wird. Das hat uns viel Dynamik gegeben und wir konnten viele Ideen und Projekte realisieren. So war es uns beispielsweise im letzten Jahr erstmals möglich auch ein Stipendium für WissenschafterInnen aus dem Ausland auszuschreiben.

uni:view:
Wie kommen die Nachlässe an die Universität Wien?
Hämmerle: Aktuell haben wir etwa durch unseren derzeitigen Sammelschwerpunkt zum Thema "Migration" und durch die starke mediale Präsenz des FWF-Projekts "Paarkorrespondenzen des 19. und 20. Jahrhunderts" neue Bestände bekommen. Oft fungieren auch die Nachlassgeberinnen selbst als Multiplikatoren. Eine ältere Dame hat beispielsweise unsere Folder für ihr Klassentreffen angefordert und unter ihren ehemaligen Schulkolleginnen "Werbung" gemacht.

Li Gerhalter: Im Studienjahr 2008/2009 hatten wir zudem eine Ausstellung im Foyer der Universitätsbibliothek, die im Sommer 2009 in erweiterter Form im Frauenmuseum Hittisau in Vorarlberg gezeigt wurde. Dadurch haben wir ebenfalls eine große Öffentlichkeit erreicht.
Viele Bestände werden auch im Laufe der Zeit erweitert. So wurden auch dem Bestand, der 1990/91 als erster Nachlass aufgenommen wurde, noch 2010 weitere Dokumente hinzugefügt.


Was bedeutet der Frauentag für Sie?
Christa Hämmerle:
Angesichts der aktuellen Situation ist der Frauentag ein Anlass, sich seiner ursprünglichen Verortung in der Arbeiterinnenbewegung zu erinnern. Auch heutzutage haben wir oft prekäre Arbeitsverhältnisse - schaut man sich beispielsweise die Teilzeitverhältnisse von Frauen an oder die Arbeitsverhältnisse von Migrantinnen. Arbeit war eines der zentralen Themen der damaligen Frauenbewegung, ich würde mir wünschen, dass es auch heutzutage wieder stärker in den Fokus rückt. 


uni:view: Was finden Interessierte in der Sammlung?
Gerhalter: Von Tagebüchern, kalendarischen Notizen und Haushaltsbüchern über Korrespondenzen, Fotografien, amtlichen Dokumente, Schulheften bis hin zu literarischen Manuskripten finden sich in der Sammlung unterschiedliche Selbstzeugnisse von Frauen, ihren Familien und Bekannten
Hämmerle: Das heißt, wir haben auch Dokumente von Männern archiviert, beispielsweise in Form der großen Feldpostbestände. Der Schwerpunkt liegt aber auf Frauen, die in keiner prominenten Öffentlichkeit standen.

uni:view: Was ist der kleinste und was der größte Nachlass?
Gerhalter: Die Größe der einzelnen Nachlässe ist sehr unterschiedlich; einzelne bestehen nur aus einem einzigen Dokument, so etwa einem Brief einer in den späten 1940er Jahren der Liebe zu einem GI wegen in die USA emigrierten Frau an ihre Eltern in Wien. Obwohl es nur ein Schriftstück ist, ist der Brief sehr aussagekräftig und erzählt ein großes Stück Zeitgeschichte. Einen der größten Bestände bildet der Nachlass einer Familie aus dem Wienerwald mit Dokumenten aus sechs Generationen, der bis 1738 zurückreicht 


Was bedeutet der Frauentag für Sie?
Li Gerhalter:
In den letzten 100 Jahren hat sich vieles an der Situation der Frauen verändert, etwa im Hinblick auf die Möglichkeiten der politischen Partizipation oder in der Gesetzgebung. Es wurden zentrale Forderungen der frauenbewegten Aktivistinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfüllt. Das muss anerkannt und erinnert werden und ist ein Grund zu feiern. Auf der anderen Seite hat sich vieles aber auch noch immer nicht verbessert, so existiert nach wie vor eine große Einkommensschere. Diese Forderungen sind weiterhin wesentlich.


uni:view:
Das Archiv wird nicht nur in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, sondern auch in der universitären Lehre genutzt. Wie reagieren die Studierenden? 

Gerhalter: Wir arbeiten unter anderem mit Lehrenden des Instituts für Geschichte, Europäische Ethnologie, Germanistik und Zeitgeschichte zusammen.  Das Einbeziehen von Selbstzeugnissen ist meist sehr spannend und kommt bei den Studierenden außerordentlich gut an. Ein weiteres Angebot an die Benützerinnen und Benützer des Archives ist eine Sammlung von fachspezifischer Forschungsliteratur.

uni:view: Was ist für die Zukunft geplant bzw. was würden Sie sich wünschen?
Hämmerle: Grundsätzlich hoffe ich natürlich, dass die "Sammlung Frauennachlässe" weiterhin so stark genutzt wird und – und das ist die Voraussetzung dafür – an der Universität Wien fix institutionalisiert bleibt. Auch unsere vorhandenen nationalen und internationalen Netzwerke wollen wir weiter ausbauen. Für die Frauen- und Geschlechtergeschichte ist unser Archiv jedenfalls unentbehrlich geworden. (mw)

Gegründet wurde die "Sammlung Frauennachlässe"1990/1991 von Univ.-Prof. Dr. Edith Saurer, die sie in der Folge gemeinsam mit Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Christa Hämmerle am Institut für Geschichte aufgebaut hat; Mitarbeiterin ist seit 2000 Mag. Li Gerhalter. Als Träger konstituierte sich im Jahre 1999 der Verein zur Förderung der Dokumentation von Frauennachlässen. Seit 2006 ist die Sammlung Teil der Forschungsplattform "Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext. Vernetzung – Ressourcen – Projekte" (Leitung Edith Saurer, stellvertretende Leitung Christa Hämmerle).

Literaturtipps:

Christa Hämmerle/ Li Gerhalter (Hg.): Apokalyptische Jahre. Die Tagebücher der Therese Lindenberg 1938 bis 1946. L'HOMME Archiv 2. Böhlau Verlag: Wien/Köln/Weimar 2010. Zur Inhaltsbeschreibung.

Nikola Langreiter (Hg.): Tagebuch von Wetti Teuschl (1870–1885). L'HOMME Archiv 4. Böhlau Verlag: Wien/Köln/Weimar 2010. Zur Inhaltsbeschreibung.