Revisited: Die Klassiker der feministischen Theorie
| 24. März 2011Die feministischen Denkerinnen Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und Judith Butler beschäftigen Silvia Stoller vom Institut für Philosophie seit geraumer Zeit. Im Interview mit "uni:view" spricht sie anlässlich des 100. Internationalen Frauentags über die verschiedenen Ansätze der feministischen Theorie und erklärt, wie diese unter dem Blickwinkel der Phänomenologie zusammengedacht werden können.
uni:view: Im Rahmen des Elise-Richter-Programms des FWF forschten Sie zur "Phänomenologie der Geschlechtlichkeit". Darauf aufbauend erschien kürzlich die Publikation "Existenz – Differenz - Konstruktion. Phänomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoir, Irigaray und Butler". Worin unterscheiden sich diese drei Theoretikerinnen?
Silvia Stoller: Beim existenztheoretischen Ansatz von Simone de Beauvoir geht es um die Beschreibung der konkreten Existenz, also um die Frage: Was heißt es, als weibliches Subjekt zu existieren? Das mündet dann in die Forderung nach Gleichheit: Frauen sollen gleiche Rechte, Möglichkeiten und Chancen haben. Der differenztheoretische, von der Philosophin und Psychoanalytikerin Luce Irigaray vertretene Ansatz ist als Reaktion darauf zu verstehen und geht davon aus, dass Gleichheit oft nur eine Angleichung an gegebene Normen bedeutet. Die herrschenden Normen müssen jedoch hinterfragt werden. Denn sollen Frauen dieselben Rechte haben wie Männer, geht man automatisch von einer männlichen Ordnung und Kultur aus. Der Differenzfeminismus hat das sichtbar gemacht. Der konstruktionstheoretische Ansatz von Judith Butler meint wiederum, dass Frauen und Männer bzw. Frau-Mann-Verhältnisse lediglich gesellschaftliche Konstruktionen sind. Wir müssen uns auch fragen, ob es Sinn macht, von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität zu sprechen. Die Realität sieht schon längst anders aus, schließlich gibt es unterschiedliche Geschlechteridentitäten und Lebensentwürfe.
Was bedeutet der Internationale Frauentag für Sie? Silvia Stoller: Für mich geht es am Frauentag auch um die Frage nach der politischen Relevanz feministischer Forschung. In diesem Zusammenhang muss ich sagen: Feministische Forschung und Gender Studies sind so wichtig wie nie zuvor! Die konkreten Situationen von Frauen in der Arbeitswelt – sei es beispielsweise der geringe Anteil in Führungspositionen – sieht nicht rosig aus. Wiederholt zeigt sich, wie schwierig es ist, Gleichbehandlungspolitiken in der Gesellschaft umzusetzen. Patriarchale Ordnungen gibt es seit ewigen Zeiten. Sich vorzustellen, dass jetzt schon alles erledigt sei, ist unrealistisch. Nicht zuletzt gibt es auch eine globale Perspektive. Der Internationale Frauentag ist daher ein wichtiger Tag. |
uni:view: Das sind drei sehr unterschiedliche Stränge der feministischen Theorie. Wie gelingt es Ihnen, diese Ansätze zusammenzudenken?
Stoller: In der feministischen Forschung war lange Zeit von einer Genealogie der feministischen Theorieentwicklung die Rede: Eine Theorie korrigiert und ersetzt die andere. Ich bin aber davon überzeugt, dass sich diese drei Perspektiven nicht ausschließen: Erstens müssen wir uns immer wieder aufs Neue die reale Existenz von Individuen ansehen und diese beschreiben – hier sind wir übrigens heute so weit, dass wir nicht nur das Geschlecht, sondern auch Klasse, Religion, Ethnizität, Migration, Alter etc. betrachten. Zweitens machen wir als solche ständig Differenzerfahrungen, die natürlich auch positiv sein können. Vor allem aber ist Differenz eine wichtige Voraussetzung für Pluralität. Drittens lehrt uns der konstruktionstheoretische Ansatz, dass scheinbar selbstverständliche Begriffe wie Natur, Liebe, Frau, Mann immer wieder hinterfragt werden müssen. Daher sind alle drei Zugangsweisen hochaktuell.
uni:view: Sie erforschen die Ansätze der Theoretikerinnen Beauvoir, Irigaray und Butler aus einer phänomenologischen Perspektive. Warum erscheint Ihnen dieser Zugang sinnvoll?
Stoller: In der Phänomenologie ist der Aspekt der leiblichen Existenz zentral. Wir haben einen Körper, der an der Erschließung der Welt beteiligt ist. Somit wird der Leib nicht als Gegensatz zum Geist gesehen, sondern dem Leib selbst wohnt Vernunft inne. Die sinnliche Welt, die durch den Leib erfahren wird, ist viel reicher, als es die Sprache zu benennen vermag. Die Phänomenologie ist eine Philosophie der leiblichen Erfahrung, die die noch immer vorherrschende Dualität von Körper und Geist durchkreuzt. Das Konzept der Erfahrung ist demnach ein wichtiges Element, um konkrete Lebenswelten zu beschreiben. Ich wollte zeigen, dass die phänomenologische Forschung sehr viel mit der modernen Geschlechterforschung gemein hat. Es gab eine Zeit, in der davon ausgegangen wurde, dass Feminismus und Phänomenologie nichts miteinander zu tun haben. Das ist dezidiert falsch.
uni:view: Wie kam man zu diesem Urteil?
Stoller: Die feministischen PoststrukturalistInnen der 1990er Jahre konnten aus Angst vor einem unreflektierten Erfahrungsbegriff nichts mit der Phänomenologie anfangen. Dieser Vorwurf konnte nun aber entkräftet werden, international hat sich der Ansatz der feministischen Phänomenologie etabliert. Die Phänomenologie lässt sich mit ihren Beschreibungen auf konkrete Erfahrungen ein und geht nicht einfach über sie hinweg; sie berücksichtigt aber auch die Strukturen, in die sie eingebettet sind. Anders gesagt: Die Phänomenologie kann zeigen, warum wir erfahren, was wir erfahren. Damit kommt sie einer wichtigen Forderung des poststrukturalistischen Feminismus entgegen: der Historisierung der Erfahrung.
uni:view: Ist die feministische Forschung des Jahres 2011 noch von einem gewissen "Lagerdenken" geprägt?
Stoller: Ich begann meine Habilitation zu einer Zeit, als ein solches Lagerdenken ziemlich verbreitet war. Aber meine Hoffnung war, dass die Klassiker mit einem gewissen zeitlichen Abstand aus einer neuen Perspektive betrachtet werden können. Es war mir wichtig, die alten Ressentiments hinter mir zu lassen und einen neuen Blick zu wagen. Auch die Studierenden in den Seminaren waren begeistert und haben immer wieder von allen drei Theoretikerinnen profitiert. Ich habe den Eindruck, dass man insgesamt auch ein neues Selbstverständnis in Bezug auf die Genderforschung entwickelt hat. Die Forschung hat sich unglaublich ausdifferenziert, und man kann dieser Pluralität gerecht werden. Rund ein Vierteljahrhundert Geschlechterforschung gibt jedenfalls Anlass für eine innovative Neulektüre. (dh)
Univ.-Doz. DDr. Silvia Stoller vom Institut für Philosophie forschte im Rahmen des FWF Elise-Richter-Programms von Juli 2006 bis Februar 2008 zum Thema "Phänomenologie der Geschlechtlichkeit". 2009 habilitierte sie sich an der Universität Wien. Im Sommersemester 2011 lehrt sie als Aigner-Rollett-Gastprofessorin für Frauen- und Geschlechterforschung an der Karl-Franzens-Universität Graz.
Literaturtipp:
Silvia Stoller: Existenz - Differenz - Konstruktion. Phänomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoir, Irigaray und Butler. München, Wilhelm Fink Verlag.