Reise zum Ursprung der Fotografie

Die wohl älteste Kamera der Welt - eine original "Daguerréotype Susse Frères" aus dem Jahr 1839 - war kürzlich nach 170 Jahren Pause wieder im Einsatz: Am 25. August 2010 wurde damit im Rahmen eines Kunstprojekts eine der ersten österreichischen Daguerrotypien, der "Blick auf den Michaelerplatz" aus dem Jahr 1840, nachgestellt. Vorbereitet und durchgeführt wurde die Reproduktion von Wissenschaftern des Instituts für Organische Chemie: Sie haben die Aufnahme im Originalverfahren mittels Quecksilberdampf und Goldlösung auf Silberplatte gebannt.

Man nehme ein gut ausgestattetes Chemielabor, mehrere silberbeschichtete Kupferplatten, Quecksilber, Brom und Goldchlorid. Oder man sucht sich jemanden, dem das alles bereits zur Verfügung steht. Das dachte sich wohl auch Martin Reinhart von der Wiener Firma WestLicht, als er vor einigen Wochen mit einem Projektvorschlag bei Harry Martin vom Institut für Organische Chemie vorstellig wurde: Ziel sei es, die vermutlich älteste Kamera der Welt aus dem Dornröschenschlaf zu wecken, um eine Daguerréotypie aus der Fotosammlung der Albertina - "Blick auf den Michaelerplatz" von Andreas von Ettingshausen (Mai 1840) - originalgetreu nachzustellen. Die Aufnahme solle dann entsprechend des von Louis-Jacques-Mandé Daguerre erfundenen Verfahrens ausgearbeitet werden.

Silberne Lichtbilder


Genau hier kommt die Chemie ins Spiel. Denn die Entwicklung der silberbeschichteten, mit Brom oder Iod aktivierten und in der Kamera belichteten Kupferplatten erfolgt mittels Quecksilberdampf - "kein ungefährliches Unterfangen, das entsprechendes Knowhow, bestimmte Sicherheitsvorkehrungen und ein geeignetes Labor voraussetzt, worüber wir hier am Institut natürlich verfügen", erklärt Harry Martin, der die Herausforderung nach Rücksprache mit dem Institutsvorstand Walther Schmid angenommen und ein Team zusammengetrommelt hat: seine beiden Kollegen Wolfgang Reischl und Hanspeter Kählig für die chemische Umsetzung sowie den Glasbläser Walter Balba für die Konstruktion des Quecksilberentwicklers.

Für den künstlerischen und fotografischen Teil beauftragte die Firma WestLicht den kubanischen Fotografen Nelson Ramirez de Arellano Conde. Die Kamera - eine original "Daguerréotype Susse Frères" aus dem Jahr 1839 - wurde 2007 von WestLicht zum Rekordpreis von 576.000 Euro versteigert und für das Projekt von den neuen Besitzern zur Verfügung gestellt.

Die schlafende Schönheit wecken


Nach einer Reihe von Experimenten ist es dann soweit: Am 19. August - auf den Tag genau 171 Jahre nachdem Frankreich der Menschheit das Daguerréotypie-Patent zum Geschenk gemacht hat - gelingt dem Team die Entwicklung der ersten Testaufnahme, einem Gruppenbild im Hof des Instituts für Organische Chemie.

Vom Erfolgserlebnis beflügelt, geht es eine Woche später in den ersten Bezirk, um wie geplant den "Blick auf den Michaelerplatz" nachzustellen - "übrigens eine der ersten Daguerrotypien, die auf österreichischem Boden gemacht wurde", sagt der Künstler Nelson Ramirez. "Wake up the sleeping beauty" hat der Kubaner das Projekt getauft, bei dem im Auftrag der Firma WestLicht insgesamt 30 Daguerréotypien aus dem 19. Jahrhundert in Wien, Salzburg und am Attersee reproduziert werden sollen.

Mission geglückt


Zurück in der Währingerstraße 38 herrscht gespannte, aber auch etwas besorgte Stimmung: Wird alles gut laufen? Werden die Aufnahmen etwas taugen? Nach der Quecksilberentwicklung und dem anschließenden Fixierbad steht fest: Es hat geklappt! Etwas undeutlich sind die Bilder noch, mit einem Bad in 90 Grad heißer Goldchloridlösung soll noch etwas mehr Schärfe herausgeholt werden. Doch plötzlich passt die Silberplatte nicht mehr in den eigens für diesen Vorgang konstruierten Behälter - er hat sich beim Erwärmen verzogen. Das stellt für das engagierte Team allerdings nur kurz ein Hindernis dar - nichts, dem mit Bastelmesser und Klebeband nicht beizukommen wäre. "Wir Chemiker sind es gewohnt zu improvisieren", sagt Harry Martin. "Wir Kubaner auch", lacht der Fotograf.

Am Ende des arbeitsreichen Tags können zwei gelungene Aufnahmen vom Michaelerplatz gefeiert werden. "Wir sind stolz, dass es uns so rasch geglückt ist, diese Methode wiederzubeleben", freuen sich die Wissenschafter: "Vermutlich sind wir die ersten seit weit über 150 Jahren, die mit einer Original Daguerréotype Kamera und dem Daguerre-Verfahren gearbeitet haben."

Faszinierende Bilder

Zu seinen Lebzeiten war Daguerres Erfindung eine Weltsensation - die Neuigkeit von der "künstlichen Malerei" ging in atemberaubender Geschwindigkeit um die Welt.  Allerdings hielt sich die Daguerrotypie nicht lange: Die Bilder waren nicht haltbar genug, das Verfahren zu aufwändig. "Es ist schon ab den 1850er-Jahren durch modernere fotografische Methoden ersetzt worden", weiß Harry Martin.

Fast 200 Jahre später stecken wir erneut mitten in einer Revolution der Bildersprache, in der unser Verständnis von der Darstellung der Wirklichkeit umgekrempelt wird: Das Zeitalter der analogen Fotografie neigt sich dem Ende zu. Dennoch haben Daguerres silberne Lichtbilder nach wie vor nichts von ihrer Faszination verloren. Eine Vorstellung davon, was ihr Anblick bei den Menschen damals ausgelöst haben muss, bekommt jedoch nur, wer sie einmal mit eigenen Händen ins Licht gehalten und so lange hin und hergedreht hat, bis das Bild darauf klar zu erkennen war: "Diesen Zauber kann man mit einer Digitalkamera nicht festhalten", sind sich die Chemiker einig. (br)

Zum Nachlesen:


Monika Faber: Stallburg und Altes Burgtheater. Eine Daguerreotypie von Andreas von Ettingshausen aus dem Jahr 1840. Zum Download (PDF)