Politikwissenschafter Peter Gerlich ist tot
| 21. Juni 2019Der Politikwissenschafter Peter Gerlich ist am 13. Juni nach langer, schwerer Krankheit im 80. Lebensjahr verstorben. Er war Mitbegründer des Instituts für Staatswissenschaft an der Universität Wien sowie der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft.
Seine Markenzeichen seien "einmalige Unabhängigkeit und Objektivität" und "einmalige Unvoreingenommenheit", streute Verfassungsrechtler Manfried Welan Gerlich in einer Festschrift 2010 anlässlich dessen 70. Geburtstags Rosen. Weil aber "kein 'Medienprofessor'", sei er einer breiten Öffentlichkeit auch nicht so bekannt wie manch anderer Vertreter seines Fachs. Gerlichs "Politikwissenschaft des gesunden Menschenverstands" (Welan) drehte sich dabei vor allem um die Themenbereiche Parteienforschung, Politische Systemlehre, Parlamentarismus und vergleichende Politikwissenschaft im In- und Ausland.
Bewegte Karriere
Gerlich, geboren am 17. Dezember 1939 in Wien, hat Rechtswissenschaften an der Universität Wien studiert. An die Promotion 1964 schloss er einen postgradualen Lehrgang für Politikwissenschaft am Wiener Institut für Höhere Studien (IHS) an, wo er zuerst als Assistenzprofessor und von 1967 bis 1974 als Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft blieb. Nach seiner Habilitation 1973 an der Uni Wien zum Thema "Parlamentarische Kontrolle im politischen System" ging er für ein Jahr als Professor an die Universität Braunschweig.
1974 kehrte er als Mitbegründer und Institutsvorstand des Instituts für Politikwissenschaft – heute Institut für Staatswissenschaft – an die Universität Wien zurück. Schon zuvor hatte er als Gründungsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft und der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft seinen Ruf als einer der Väter dieses Fachs begründet. Es folgten Gastprofessuren u.a. in Stanford und Oxford, mehrmalige Dekan-Funktionen und die Leitung der Abteilung Politikwissenschaft und Soziologie am Institut für Höhere Studien (1992-1997). Bis zu seiner Emeritierung 2008 und auch noch danach hat Gerlich damit laut Welan "die österreichische Politikwissenschaft und ihr Bild in der Gesellschaft und von der Gesellschaft nachhaltig geprägt". (APA)
Nachruf auf Peter Gerlich von Wolfgang C. Müller für das Institut für Staatswissenschaft
Peter Gerlich ist am 13. Juni 2019 gestorben. Er war Gründer und langjähriger Vorstand des Instituts für Staatswissenschaft, mehr als ein Jahrzehnt Dekan der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und viele Jahre Direktor der Internationalen Sommerhochschule der Universität Wien.
Peter Gerlich wurde 1939 in Wien geboren. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte er mit seiner Familie in der amerikanischen Besatzungszone im Salzkammergut, dem er lebenslang verbunden blieb. Er studierte Rechtswissenschaft an der Universität Wien (1964 Promotion zum Dr. iur.) und an der Columbia University (M.C.L.) sowie Politikwissenschaft und Soziologie an den Universitäten Saarbrücken und München. Er setzte seine Ausbildung fort als Scholar am damals neuen, post-graduaten Institut für Höhere Studien, wo er ab1966 als Assistenzprofessor und schließlich, ab 1967, als Abteilungsleiter für Politikwissenschaft wirkte. 1973 habilitierte er sich an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. 1974 folgte er einem Ruf an die Universität Braunschweig.
1975 erfolgte der Ruf an die Universität Wien, wo er Gründer des Instituts für Politikwissenschaft an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät war. Das Institut wurde bald darauf Teil der Sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, später in Institut für Staatswissenschaft umbenannt, und 2004 schließlich Teil der neuen Sozialwissenschaftliche Fakultät. Seinem Institut diente Peter Gerlich bis zur Emeritierung im Jahre 2009 und weit darüber hinaus.
Peter Gerlich übte viele Funktionen dem österreichischen Wissenschaftssystem aus. Er war Dekan der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät 1975–1979 und 1993–2000, über zwei Jahrzehnte Direktor der Internationalen Sommerhochschule der Universität Wien, Referent im Kuratorium des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) 1985–1991, zwei Mal Leiter der Abteilung Politikwissenschaft am IHS, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, und Teilnehmer in vielen Arbeitskreisen zur Universitätsreform.
Peter Gerlich war einer der Begründer der modernen Politikwissenschaft in Österreich. Er hat sich eingesetzt für Politikwissenschaft als systematische, Daten-gestützte Sozialwissenschaft, als eine Wissenschaft, die politisches Verhalten untersucht und erklärt und sich so sich von seiner ursprünglichen Disziplin, der Rechtswissenschaft, unterscheidet, aber auch von Ansätzen, wo politisches Engagement echtem Erkenntnisgewinn im Wege steht. Eine solche Wissenschaft gab es an den österreichischen Hochschulen bis in die 1970er Jahre nicht. Dass sie heute weitgehend selbstverständlich geworden ist, ist in hohem Maße auch das Verdienst von Peter Gerlich.
Dabei war Peter Gerlich kein Wissenschaftler, der sich in Fachjargon flüchtete oder zu sehr auf theoretische Modelle verließ. In seinen Beiträgen zur politischen Kultur griff er gerne auch auf auch unkonventionelle Daten wie Alltagsbeobachtungen und literarische Zeugnisse zurück. Zeitlebens wichtig war Peter Gerlich, dass die Politikwissenschaft sich mit der politischen Realität auseinandersetzt und nicht in rein akademischen Debatten erschöpft. Manfried Welan hat das als die "Politikwissenschaft des gesunden Menschenverstands" bezeichnet was Peter Gerlich sicher als großes Kompliment empfunden hat.
Peter Gerlich hinterlässt ein reiches wissenschaftliches Werk. Seine Studien zum österreichischen Parlamentarismus und zur Institutionalisierung von Parlamenten im internationalen Vergleich waren international beispielhaft. Dazu gehören die Bücher Abgeordnete in der Parteiendemokratie. Eine empirische Untersuchung des Wiener Gemeinderates und Landtages (1969, mit Helmut Kramer), seine Habilitation an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, bei Günther Winkler, Parlamentarische Kontrolle im politischen System: Die Verwaltungsfunktionen des österreichischen Nationalrats in Recht und Wirklichkeit (1973), und Staatsbürger und Volksvertretung. Das Alltagsverständnis von Parlament und Demokratie in Österreich (1981, mit Karl Ucakar).
Seine Arbeiten zu Parteien und Parteiensystem, Sozialpartnerschaft, politischer Kultur und vielen weiteren Aspekten des politisches Systems Österreichs sind im In- und Ausland erschienen, in international führenden Fachzeitschriften und angesehenen Verlagen. Peter Gerlich war Mitherausgeber des zum Standardwerk gewordenen Politik in Österreich: Das Handbuch (2006, und seiner Vorgänger) und vieler wichtiger Gemeinschaftspublikationen. Konfrontiert mit neuen Herausforderungen wie dem Fall des Eisernen Vorhangs und die Integration Österreichs in die EU, griff er diese Themen auf und leistete Pionierarbeit in diesen neuen Forschungsfeldern. Seine letzte Publikation über "Machtverluste und Machtgewinn europäischer Nationalstaaten im Einigungsprozess" erschien 2007.
Peter Gerlich war sehr international orientiert, schon zu einer Zeit, als das überhaupt noch nicht selbstverständlich war. Das begann bereits im Studium. Seinen einjährigen Amerika-Aufenthalt erlebte er als "befreiend". Sein Studium an der Columbia University und sein anschließendes Internship bei den Vereinten Nationen brachte ihn in Kontakt mit Angehörigen vieler Nationen und erschlossen ihm eine andere Welt. Er selbst nannte es in seiner intellektuellen Autobiographie aus dem Jahr 1997 "a great experience of widening horizons and expanding orientations". Die Gelegenheit Kurse anderer Disziplinen zu belegen führten zu einer biographisch folgenreichen Entdeckung: "I discovered the social sciences", wie er schreibt. Diese Entdeckung vertiefte er mit Hilfe eines Stipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdiensts an den Universitäten Saarbrücken und München. Seine Zeit am IHS brachte ihn in Kontakt mit vielen der international führenden Fachvertretern. Seine erste große Arbeit, die Untersuchung des Wiener Gemeinderats und Landtags, zum Beispiel wurde von Heinz Eulau von der Stanford University angeregt.
In seiner intellektuellen Autobiographie nannte er Paul F. Lazarsfeld, Jean Blondel und Gerhard Lehmbruch als weitere wichtige Impulsgeber für seinen eigene wissenschaftliche Ausrichtung. Peter Gerlich beteiligte sich mit seinem Institut sofort am European Consortium for Political Research (ECPR), auch wenn es über viele Jahre nicht gerade einfach war, dem damals noch Mikro-Management betreibenden Ministerium die Notwendigkeit des internationalen Austauschs und die Finanzierung des Mitgliedsbeitrags zu vermitteln. Peter Gerlich kehrte immer wieder in die USA zurück. Er hatte Gastprofessuren an der Stanford University, dem Smith College, der University of New Orleans, wo ihn der Hurrikan Katrina überraschte, und der University of Minnesota. An der Universität Oxford verbrachte er einen längeren Aufenthalt als Gastwissenschaftler. 20 Jahre gehörte er dem wissenschaftlichen Komitee für den Europäischen Amalfipreis für Sozialwissenschaften an, von dessen Sitzungen er immer mit vielen Anregungen zurückkam.
Zentral für das Wissenschaftsverständnis von Peter Gerlich war immer der Vergleich. Der frühe USA-Aufenthalt war dafür sehr wichtig, wie er in seiner intellektuellen Autobiographie betonte. Er war überzeugt davon, dass man kein System, nicht einmal das eigene, verstehen kann, wenn man es nicht mit anderen Systemen konfrontiert und vergleicht. Im Rückblick verstand Peter Gerlich die Übersiedlung vom ländlichen Idyll des Mondsee zurück nach Wien als die erste derartige Konfrontation in seinem Leben. Die Überwindung des eigenen Parochialismus, das bessere Verstehen des eigenen Systems durch den Vergleich, die Entwicklung von wissenschaftlichen Erklärungen aus dem Vergleich, und schließlich die Bewertung aus dem Vergleich heraus, prägten Peter Gerlich und sein Werk.
Peter Gerlich war ein unermüdlicher Lehrender, der an der Universität Wien weit über seine Lehrverpflichtungen hinaus gegangen ist. Daneben unterrichtete er auch am Institute of European Studies (IES), der Webster University und anderen Einrichtungen. Für die politische Bildung wirkte er viele Jahre am Hochschullehrgang für Lehrerfortbildung mit. Seine Lehrtätigkeit setzte Peter Gerlich bis lange nach der Emeritierung fort.
Peter Gerlich war ein sehr positiver Mensch. Bei jedem studentischen Projekt suchte er nach dem sprichwörtlichen Goldkorn und versuchte die Studierenden entsprechend zu motivieren. Seine Offenheit für neue Ideen und seine Bereitschaft auch auf unkonventionelle Projekte einzugehen sind geradezu legendär. Die zahlreichen Schüler und Schülerinnen Peter Gerlichs sind erfolgreich in vielen Bereichen der Gesellschaft tätig. Aus dem Kreis seiner Dissertanten und Habilitanden ist eine ganze Reihe von Professoren und Professorinnen – in Österreich aber auch in anderen Wissenschaftssystemen – hervorgegangen.
Peter Gerlich war ein vielseitiger und auch kulturell sehr interessierter Mensch. Das äußerte sich in vielen interdisziplinären Seminaren mit Ökonomen, Historikern und Vertretern der Kultur- und Geistesgeschichte. Sein breites Wissen ermöglichte es ihm überraschende Zusammenhänge herzustellen. Er hätte sein beeindruckendes Arbeitspensum nicht ohne enormen Einsatz bewältigen können. Sein Arbeitstag endete nur selten vor den frühen Morgenstunden.
Im lange Zeit vom rot-schwarzen Proporz und dem ständigen Wunsch, Personen einem bestimmten politischen Lager zuzurechnen geprägten Österreich, zeichnete sich Peter Gerlich durch "einmalige Unabhängigkeit und Objektivität" und "einmalige Unvoreingenommenheit" aus, wie es Manfried Welan in der Festschrift zum 70. Geburtstag von Peter Gerlich zum Ausdruck brachte.
Peter Gerlichs letzter Lebensabschnitt war von Krankheit überschattet. Er trug sie mit großer Tapferkeit.
Die österreichische Politikwissenschaft verliert in Peter Gerlich einen ihrer Gründungsväter, das Institut für Staatswissenschaft seinen Gründer und langjährigen Vorstand, einen hoch geschätzten Gelehrten, vor allem aber einen guten Freund und liebenswerten Menschen.