Passende Puzzleteile: Perspektiven für geflüchtete LehrerInnen
| 04. Juli 2018Seit Herbst 2017 unterstützt ein postgradualer Zertifikatskurs LehrerInnen mit Fluchthintergrund beim Wiedereinstieg in den Beruf. Bildungswissenschafterin Michelle Proyer, Co-Gründerin des Programms, erzählt im Interview über Bedarfe neuankommender Personen und Perspektiven für AbsolventInnen.
uni:view: Frau Proyer, Sie haben im Herbst 2017 den postgradualen Zertifikatskurs "Bildungswissenschaftliche Grundlagen für Lehrkräfte mit Fluchthintergrund" ins Leben gerufen. Was war die Idee dahinter?
Michelle Proyer: Viele der geflüchteten Menschen, die im Herbst 2015 nach Österreich gekommen sind, verfügen über einen hohen Bildungsabschluss und ein spannendes Kompetenzprofil (zur Studie des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital). Unter ihnen sind viele qualifizierte Lehrkräfte, die unterrichten wollen, aber kaum Möglichkeiten zum Wiedereinstieg haben. Und das, obwohl in Österreich für viele Fächer händeringend nach LehrerInnen gesucht wird. Der Zertifikatskurs soll diese zwei Puzzleteile ein Stückchen näher zusammenführen.
uni:view: Was wird in dem zweisemestrigen Zertifikatskurs vermittelt?
Proyer: In Österreich müssen LehramtsanwärterInnen zwei Fächer und die Allgemeinen Bildungswissenschaftlichen Grundlagen (ABG) studieren. Das ist nicht überall so: Die Mehrzahl der geflüchteten Lehrpersonen bringt "nur" ein Fachstudium mit, in dem sie allerdings topausgebildet ist. Im Zertifikatskurs vermitteln wir den dritten Baustein des österreichischen Lehramtsstudiums: die ABG. Wir haben lediglich die ECTS-Angaben marginal verändert, ein Abschlussmodul eingefügt und die Anzahl der Praxiseinheiten erhöht. Für eine Regelanstellung an österreichischen Schulen braucht es dann noch ein zweites Fach. Viele unserer TeilnehmerInnen planen, an den Zertifikatkurs ein Studium anzuhängen.
uni:view: Welche Voraussetzungen müssen die Lehrpersonen mitbringen, um an dem Kurs teilnehmen zu können?
Proyer: TeilnehmerInnen brauchen mindestens einen Bachelorabschluss in einem Fach, das an österreichischen Schulen unterrichtet wird. Dieser Abschluss muss vorab von einer externen Stelle geprüft und als äquivalent anerkannt werden. Vorausgesetzt werden weiters ein aufrechter Asylstatus oder alternativ dazu subsidiärer Schutz und Deutschkompetenzen auf dem Level B2.2. Und was vielleicht am schwierigsten war: die BewerberInnen müssen einen Nachweis über ihre Unterrichtspraxis erbringen. Viele hatten keine Bestätigung, wir haben also sehr unterschiedliche Nachweisformen akzeptiert – von Unterrichtssequenzen auf Video bis hin zu Fotos von einem Englischkurs, der in einem Flüchtlingscamp abgehalten wurde.
"Durch die Theorie im Zertifikatskurs habe ich einen Eindruck davon bekommen, wie das Schulsystem in Österreich aufgebaut ist und wie Unterricht in Österreich aussieht. Durch das Praktikum in der Schule konnte ich einen guten Einblick in den Sportunterricht in Österreich bekommen und viele verschiedene Methoden kennenlernen, die es in Syrien nicht gibt", erzählt Kursteilnehmer Moaaz Nouri. In Damaskus hat er "Bewegung und Sport" unterrichtet. (© Postgraduate Center der Universität Wien)
uni:view: Der Zertifikatskurs ist aus Ihrem Forschungsprojekt "Bildungswissenschaftliche Grundlagen für Lehrkräfte mit Fluchthintergrund" hervorgegangen. Was haben Sie darin untersucht?
Proyer: Im Projekt haben wir die Situation und die Bedarfe geflüchteter Lehrkräfte erhoben. Mit partizipativen Methoden sind wir der Frage auf den Grund gegangen, welche Maßnahmen notwendig sind, um Barrieren im Bildungssystem abzubauen, und was sich betroffene Personen wünschen. Was immer wieder formuliert wurde: Die Personen möchten in ihren Beruf zurückkehren und das unterrichten, was sie gelernt haben, nicht aber als "muttersprachliche Hilfskräfte" eingesetzt werden.
uni:view: Abgesehen von Fachkompetenz: Welche Ressourcen können die KursteilnehmerInnen in das österreichische Schulsystem einbringen?
Proyer: Klarerweise ist es von Vorteil, wenn eine Lehrkraft die Sprache der SchülerInnen spricht. Unsere TeilnehmerInnen können an den Schulen ein Stück weit auch als kulturelle MentorInnen fungieren. Sie haben selbst erlebt, was es heißt auf der Flucht gewesen zu sein und sich in einer neuen Kultur zurechtfinden zu müssen.
uni:view: Wie waren die Reaktionen auf den Zertifikatskurs?
Proyer: Die Reaktionen waren größtenteils sehr positiv. Unsere Partnerschulen würden, wenn sie könnten, viele unserer TeilnehmerInnen sofort einstellen. Von mehreren Seiten haben wir Unterstützung erfahren und es sind spannende Kooperationen entstanden, zum Beispiel mit dem Zertifikatskurs "Deutsch als Zweit- und Fremdsprache unterrichten" der Uni Wien oder dem AMS.
Es gab auch ein reges Interesse seitens der Medien. Speziell erinnere ich mich an einen ORF-Beitrag, der für zahlreiche LeserInnenkommentare sorgte, die wir anschließend gemeinsam im Unterricht durchgegangen sind. Sie reichten von "Bei so einem Lehrer würde ich auch gerne lernen" bis hin zu fremdenfeindlichen Äußerungen wie "Ich suche schon nach Privatschulen, damit dieser Typ nicht meine Tochter vergewaltigt".
uni:view: Ende Juni geht die erste Runde des Zertifikatskurses zu Ende. Gibt es etwas, das sie im Nachhinein anders machen würden?
Proyer: Es ist nahezu unmöglich, diese Gruppe nicht ganzheitlich zu betreuen. Wir waren sehr nah an der Gruppe dran und ganz automatisch auch AnsprechpartnerInnen für Fragen in Sachen Deutschkurs oder AMS. In einem zweiten Durchgang wird das nicht mehr so realisierbar sein, da es sehr kräftezehrend ist. Wir müssen uns wohl als Lehrpersonen mehr abgrenzen. Das fällt uns schwer, da wir alle persönlich sehr involviert sind.
uni:view: Nach dem Kurs ist vor dem Unterrichten. Wie geht es nun für die elf Frauen und zwölf Männer, die den Zertifikatskurs absolviert haben, weiter?
Proyer: Mittels Sondervertrag können die Lehrkräfte nach erfolgreicher Absolvierung des Kurses unterrichten. Alle TeilnehmerInnen haben sich im Zuge der Regelausschreibung des Stadtschulrats beworben, einige haben mir bereits von Bewerbungsgesprächen berichtet. Je nach Fach und Deutschkompetenz sind ihre Chancen unterschiedlich hoch. Wir bekommen auch immer wieder Nachfragen von anderen Einrichtungen geschickt, die Interesse am Profil der Teilnehmenden haben. Das wäre eine Alternative, doch langfristig ist das Ziel natürlich eine reguläre Anstellung an einer Schule.
uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (hm)
Michelle Proyer ist über Umwege in die Wissenschaft gekommen: Sie war lange Zeit Behindertenbetreuerin und hat ihr Studium der Bildungswissenschaft parallel absolviert. Seit 2008 ist sie mit Unterbrechungen am Institut für Bildungswissenschaft der Uni Wien im Bereich der Inklusiven Pädagogik tätig gewesen und hat derzeit am Zentrum für LehrerInnenbildung eine Tenure Track-Professur inne. Sie selbst hat eine der ersten Integrationsklassen als Schülerin besucht und ist davon überzeugt, dass Gesellschaft nur nach dem Diversity-Prinzip funktionieren kann.
Der erste Durchgang des Zertifikatskurs "Bildungswissenschaftliche Grundlagen für Lehrkräfte mit Fluchthintergrund" wurde als Pilotprojekt vom Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (BMEIA) finanziert. Alle 23 TeilnehmerInnen haben den Zertifikatskurs positiv abgeschlossen. Im Anschluss an den Kurs evaluiert die Universität Wien im Herbst 2018, wie die AbsolventInnen am Arbeitsmarkt aufgenommen werden. Darüber hinaus führen wir Gespräche mit allen Stakeholdern, um weitere Perspektiven der TeilnehmerInnen und des Kurses zu diskutieren.