"Mehrsprachigkeit ist nicht gleich Mehrsprachigkeit"

Minderheitensprachen, Migrationssprachen und Schulsprachen. Wie es um die Sprachen in Europa steht, diskutieren Sprachforscherin Eva Vetter und Germanistin İnci Dirim im Rahmen der aktuellen Semesterfrage "Was eint Europa?".

uni:view: Die EU hat Mehrsprachigkeit zum obersten Ziel ihrer Sprachenpolitik erklärt – können Sie den Begriff Mehrsprachigkeit aus wissenschaftlicher Perspektive erläutern?
Eva Vetter:
Die EU vertritt mit ihrer Formel "mother tongue + 2" eine additive Vorstellung von Mehrsprachigkeit. Dem schließt sich die Wissenschaft schon lange nicht mehr an. Es geht nicht darum, die vollständige Kompetenz von Sprachen zu addieren, vielmehr ist Mehrsprachigkeit als Gesamtheit eines sprachlichen Repertoires zu sehen, in dem Bestandteile von verschiedenen Sprachen enthalten sein können.

İnci Dirim: Mir fällt dazu der Begriff "Sprachigkeit" ein, den u.a. Brigitta Busch verwendet, um genau darauf aufmerksam zu machen: Sprachen sind keine zählbaren Einheiten, die man scharf voneinander abgrenzen kann.

uni:view: Hinkt die EU der Wissenschaft in puncto Mehrsprachigkeit "hinterher"?
Vetter:
Momentan sehe ich nicht, dass die EU von einer einzelsprachlichen Vorstellung ablässt. Nach wie vor steht die Ganzheit von Sprachen im Zentrum. Dennoch war Europa in Dingen Sprachenpolitik bahnrechend, beispielsweise bei der Förderung von Minderheitensprachen. Der Europarat setzt sich heute ganz klar für die Entwicklung von autochthonen Minderheitensprachen und die Rechte ihrer SprecherInnen ein. Der Europarat fördert allerdings alt eingesessene Minderheitensprachen, doch es gibt auch Minderheiten aufgrund von Migration. Über diesen Punkt müssen wir in Zukunft viel nachdenken.

Jedes Semester stellt die Uni Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Die Semesterfrage im Wintersemester 2018/19 lautet "Was eint Europa?". ForscherInnen liefern dazu vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus dem jeweiligen Fachbereich. Zum Thema Sprachen in Europa hat uni:view mit Sprachforscherin Eva Vetter (li.) sowie Germanistin İnci Dirim (re.) gesprochen. (Fotos: © Uni Wien/Barbara Mair)

uni:view: Wie steht es aktuell um die Migrationssprachen?
Dirim:
Nicht alle Sprachen werden gleichermaßen wertgeschätzt. Das geht auch auf die Kolonialzeit zurück, in der zur Hierarchisierung unterschiedlicher Personengruppen nicht nur die Hautfarbe, sondern auch die Sprache herangezogen wurde. Diese Denktradition ist heute nicht mehr offen vertretbar, doch Spuren sind geblieben: Migrationssprachen werden marginalisiert – vor allem im Bildungssystem.

Ein Beispiel aus der Deutsch als Zweitsprache-Forschung: Im mehrsprachigen Luxemburg, das oftmals als "sprachenpolitisches Vorzeigeland" herangezogen wird, führte Sabine Hornberg die Leseluxstudie  durch. Das Ergebnis zeigt deutlich, dass Kinder, die eine amtssprachliche Mehrsprachigkeit mitbringen, eine höhere Kompetenz im Deutschen haben als jene mit migrationssprachlicher Mehrsprachigkeit. Mehrsprachigkeit ist nicht gleich Mehrsprachigkeit, es gibt eine klare Orientierung an den nationalen Sprachen.


Am 14. Jänner 2019 findet die Abschlussveranstaltung zur aktuellen Semesterfrage im Audimax statt. Nach einem Impulsreferat von Franz Vranitzky, österreichischer Bundeskanzler 1986-1997, zum Thema "Was eint Europa?" diskutieren mit ihm am Podium Sylvia Hartleif, Leiterin Außenpolitik des Europäischen Zentrums für politische Strategie (Europäische Kommission), die österreichische Schriftstellerin Maja Haderlap, EU-Aktivistin und Studentin Nini Tsiklauri sowie seitens der Universität Wien Gerda Falkner vom Institut für Europäische Integrationsforschung und Martin Kocher vom Institut für Volkswirtschaftslehre und IHS-Leiter. Moderiert wird der Abend von "DerStandard"-Chefredakteur Martin Kotynek.

uni:view: Sie sprechen die Schule an, die für Sie beide Forschungsgegenstand ist. Inwiefern hat Mehrsprachigkeit im österreichischen Schulsystem Platz?
Dirim:
Das Bildungssystem in Österreich ist monolingual deutschsprachig organisiert – mit Ausnahmen vereinzelter Projekte. Es gibt den muttersprachlichen Unterricht, der in Österreich breiter und vielfältiger angeboten wird als in anderen europäischen Ländern. Dennoch können längst nicht alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Sprachen teilnehmen und oftmals werden die SchülerInnen, die den muttersprachlichen Unterricht besuchen, mit Migrationshintergrund und einem alltagsweltlichen "AusländerIn sein" markiert.

Vetter: Nichtsdestotrotz haben wir in Österreich ein tolles System: Der muttersprachliche Unterricht wird bei uns nicht von der Community, sondern vom Ministerium organisiert und es gibt zumindest einen Lehrgang für angehende Lehrkräfte. Der Status der Lehrenden ist jedoch nicht mit dem der anderen Lehrkräfte zu vergleichen – sie haben oft keinen Schreibtisch im LehrerInnenzimmer, müssen pendeln und am Nachmittag unterrichten, ihnen wird ein peripherer Platz zugewiesen.

uni:view: Davon abzugrenzen ist der Fremdsprachenunterricht. Welche Sprachen können erlernt werden?

Vetter:
Englisch ist in Österreich die mit Abstand am häufigsten gelernte Fremdsprache. Dahinter folgen Französisch und Spanisch. An der AHS gibt es einen geschlossenen Sprachenkanon, es können also nur gewisse Sprachen erlernt werden. Auf dem Papier ist zwar ein Sprachentausch möglich (§ 18 Abs. 12 SchUG), d.h., dass Kinder in ihrer mitgebrachten Sprache wie in der Unterrichtssprache beurteilt werden und die Unterrichtssprache wie die lebende Fremdsprache beurteilt wird. Wir haben das mit SchülerInnen versucht, die regelmäßig den UniClub besuchen, doch der Stadtschulrat hat "Nein" gesagt, da es keine Lehrkräfte gibt, um die Kinder zu prüfen. Hier braucht es mehr Flexibilität, man könnte zum Beispiel verstärkt virtuell arbeiten, mit anderen Standorten kooperieren und Synergieeffekte schaffen.


uni:view: Sie sind beide in der LehrerInnenbildung tätig. Was versuchen Sie angehenden Lehrkräften zu vermitteln?
Dirim:
Jedes Fach ist ein bisschen Sprachenfach, unter den gegebenen Bedingungen Deutschfach. Deutschförderung sollte also eine Querschnittsaufgabe aller Lehrkräfte sein. Sie sollten eine Vorstellung davon haben, wie sie Texte vorentlasten und Fachbegriffe verständlich erklären können, wie zum Beispiel eine verschachtelt formulierte Mathematikaufgabe sprachlich zugänglich wird. Für mich steht die Handlungsfähigkeit der Kinder in verschiedenen Fächern im Mittelpunkt.

Vetter: Ich versuche den Studierenden zu vermitteln, dass Verstehen ein ganzheitlicher Prozess ist. SchülerInnen sollen im Unterricht ihr mehrsprachiges Repertoire hinzuziehen können. Mehr noch: Lehrerinnen sollten die Mehrsprachigkeit anregen und darüber nachdenken, wie man im Unterricht mit Sprache(n) experimentieren und lernen kann.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (hm)

İnci Dirim hat seit März 2010 die Professur für Deutsch als Zweitsprache am Institut für Germanistik inne, damit war sie österreichweit die erste Professorin in diesem Bereich. Ihre Antwort auf die Semesterfrage "Was eint Europa?" lautet: "Die Schwierigkeit, mit der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit umzugehen."
Eva Vetter ist seit September 2011 Professorin für Fachdidaktik (Sprachlehr- und -lernforschung) und Leiterin des Fachdidaktischen Zentrums/ Sprachlehr- und -lernforschung der Universität Wien. Für sie eint Europa das politische Bekenntnis zur Mehrsprachigkeit, denn nur "eine Sprache ist für Europa nicht vorstellbar."