Medizin-Nobelpreis 2017: Der inneren Uhr auf der Spur
| 04. Oktober 2017Der Medizin-Nobelpreis 2017 geht an drei US-Forscher für ihre Entdeckung der molekularen Mechanismen der sogenannten "biologischen Uhr". uni:view fragt die Mikrobiologin Kristin Teßmar-Raible von der Universität Wien, die selbst zur "inneren Uhr" forscht, nach der Bedeutung dieses Forschungsfelds.
uni:view: Frau Teßmar-Raible, was sagen Sie als Molekulargenetikerin zur Medizin-Nobelpreiszuerkennung an die drei US-Forscher Jeffrey C. Hall, Michael Rosbash und Michael W. Young?
Kristin Teßmar-Raible: Absolut fantastisch! Das war wirklich überfällig. Es ist aber schade, dass Ron Konopka und Seymour Benzer (Anm. d. Red.: Ein US-amerikanischer Genetiker und ein US-amerikanischer Biophysiker, die ebenfalls auf dem Gebiet forschten) bereits verstorben sind und nicht ebenfalls gewürdigt wurden.
uni:view: Welche Bedeutung hat diese Entdeckung der genetischen Grundlage der inneren Uhr für die Wissenschaft – und den Menschen?
Teßmar-Raible: Die Nobelpreisträger haben die grundsätzlichen molekularen Prinzipien der inneren Uhr aufgedeckt. Das hat u.a. den Grundstein dafür gelegt, dass wir verstehen, warum viele (wahrscheinlich die meisten) Prozesse in Tieren und Menschen rhythmisch sind und wieso es z.B. zu Phänomenen wie Jetlag kommt. Es hat dazu geführt, dass wir immer besser verstehen, dass ein Stören dieser Rhythmen (z.B. durch Schichtarbeit) krank macht und dass z.B. der Zeitpunkt, wann wir etwas essen oder Medikamente nehmen, unterschiedliche Auswirkungen hat.
uni:view: Sie forschen selber seit Jahren an den molekularen Grundlagen der inneren Uhr bei Borstenwürmern. Was bedeutet die Vergabe des Nobelpreises für Ihr Forschungsfeld?
Teßmar-Raible: Ich hoffe, dass dadurch das Forschungsfeld an Bedeutung gewinnt und den Menschen bewusster wird, wie wichtig Rhythmen und Uhren sind und wo sie überall eine Rolle spielen.
uni:view: Wie unterscheiden sich Ihr Forschungsfeld von dem der Nobelpreisträgerinnen und was sind die Gemeinsamkeiten?
Teßmar-Raible: Grundsätzlich arbeite ich auch an inneren Uhren und nutze dafür ähnliche Techniken und Analysenmethoden, allerdings sind es andere Uhren und Rhythmen (monatliche und saisonale). Wobei wir natürlich auch untersuchen, wie sich die tägliche innere Uhr und die monatliche Uhr – man kann es auch "inneren Kalender" nennen – miteinander koordinieren.
uni:view: Was bleibt – trotz Nobelpreis – in diesem Forschungsfeld noch zu tun?
Teßmar-Raible: Da gibt es meiner Meinung nach wenigstens drei grosse wichtige Themenkomplexe: Einen Themenblock würde ich "innere Tagesuhren und mentale Gesundheit" nennen, den zweiten "Uhren und Rhythmen, mit kürzeren oder längeren Perioden als 24 Stunden" und den dritten "Uhren und Rhythmen in der Ökologie".
Beim ersten Thema geht es um die interessante Beobachtung, dass mentale Probleme häufig mit Rhythmusstörungen zusammengehen, wobei die Ursache und Auswirkung noch unklar ist. Die große Frage ist hier: Was passiert in diesem Zusammenhang mechanistisch und wie kommt es zu Fehlfunktionen?
Das zweite Thema dreht sich um "Uhren und Rhythmen, mit kürzeren oder längeren Perioden als 24 Stunden". Wir verstehen jetzt zwar einigermaßen die molekularen Mechanismen der 24 Stunden-Uhr, aber es gibt noch andere Rhythmen und Uhren, z.B. monatliche und 12 Stunden-Uhren bzw. saisonale Rhythmen. Wie die monatlichen und 12 Stunden-Uhren funktionieren verstehen wir noch nicht mal im Ansatz – die saisonalen Rhythmen noch sehr wenig.
Das dritte große Thema ist "Uhren und Rhythmen in der Ökologie": Der Aspekt, dass Verhalten und Reproduktion häufig Zyklen unterliegen, wird bisher wenig in ökologische Modelle eingerechnet. Wie wirkt es sich beispielsweise auf Organismen aus, wenn ihr saisonaler und täglicher Rhythmus eine bestimmte Zeit vorgibt, wann sie fressen sollten aber beispielsweise durch Klimawandel die Futterorganismen noch nicht oder nicht mehr da sind?
uni:view: Vielen Dank für das Interview! (red)
Kristin Teßmar-Raible ist seit 2008 Group Leader und seit 2015 Professorin am Department für Mikrobiologie, Immunbiologie und Genetik an den Max F. Perutz Laboratories der Universität Wien und der MedUni Wien. 2008 erhielt Teßmar-Raible mit dem START-Preis einen angesehenen österreichischen Wissenschaftspreis und seit 2012 ist sie Mitglied der Jungen Kurie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2013 erhielt sie den prestigereichen "ERC Starting Grant" des Europäischen Forschungsrates. Im Zentrum ihrer Forschungsarbeit steht das molekulare und zelluläre Uhrwerk im "Rhythmus des Lebens".