Ludwig Boltzmann zum 175. Geburtstag

Boltzmann war nicht nur herausragender Wissenschafter, sondern auch Vordenker und Zelebrität seiner Zeit. Anlässlich seines 175. Geburtstags gibt Wissenschaftshistoriker Wolfgang L. Reiter Einblicke in das "unstete und rastlose Leben" des Wiener Physikers.

Vor 175 Jahren wurde Ludwig Boltzmann am 20. Februar 1844 im Wiener Vorort Landstraße geboren. Anlässlich eines Banketts zur Feier seines 60. Geburtstags hielt Boltzmann eine Rede und erzählte, "er sei in der Nacht zwischen Fastnacht und Aschermittwoch geboren und dieser Kontrast spiegle sich in seinem ganzen Leben wider", wie sein Schüler Stefan Meyer berichtet. Boltzmann selbst spielt hier mit der für ihn so charakteristischen feinen Ironie auf sein unstetes, ja rastloses Leben an.

Boltzmann verlebte eine unbeschwerte Jugend in Wien und Linz, wo er das Gymnasium absolvierte und von Anton Bruckner im Klavierspielen unterrichtet wurde, worin er es zu einiger Perfektion brachte. Boltzmanns wissenschaftliches Lebenswerk ist in seiner profunden Ausbildung durch bedeutende akademische Lehrer am damals noch jungen Physikalischen Institut der Universität Wien verankert, das Christian Doppler begründet hatte. Mit Josef Loschmidt und seinem Lehrer Josef Stefan verband ihn eine lebenslange Freundschaft und enge wissenschaftliche Zusammenarbeit.

Auf neuen Gebieten

Stefan, einer der wenigen Vertreter der neuen Maxwell'schen Theorie des Elektromagnetismus auf dem europäischen Kontinent, animierte Boltzmann dazu, auf diesem neuen Gebiet zu arbeiten. Dies resultierte in Arbeiten, die heute als Stefan-Boltzmann'sches-Gesetz bekannt sind und erstmals eine Bestimmung der Oberflächentemperatur der Sonne erlaubten. Es ist zugleich ein rares Beispiel für eine Verbindung von Lehrer und Schüler in einem physikalischen Gesetz.

Vor der postklassischen Physik

Die Physiker dieser Generation kannten noch nicht die heutige Trennung in theoretische und experimentelle Physik, sie leisteten auf beiden Gebieten bahnbrechende Arbeit. Dies gilt für Loschmidt, Stefan wie auch Boltzmann, dessen fundamentale experimentelle Bestätigung der Theorie Maxwells heute kaum mehr bekannt ist. Boltzmann war nicht nur ein begnadeter Theoretiker, sondern auch ein virtuoser Experimentator, trotz seiner hochgradigen Kurzsichtigkeit.

Boltzmanns wissenschaftliches Lebenswerk, das mit der Begründung der statistischen Interpretation der mechanischen Wärmelehre für immer verbunden bleibt, steht am Schluss der von Isaak Newton grundgelegten mechanistischen Naturbetrachtung, deren Ende durch die Arbeiten von Max Planck (Quantentheorie) und Albert Einstein (Relativitätstheorie, Quantentheorie) eingeläutet wird. Beide, Planck und Einstein, bezogen sich in diesen Arbeiten auf Boltzmann. Boltzmann selbst, der Prophet einer wahrscheinlichkeitstheoretischen Interpretation physikalischer Grundgesetze, war es nicht mehr gegönnt, das gelobte Land der neuen, postklassischen Physik zu betreten.

Eine internationale Zelebrität

Der Universität Wien ist Boltzmann auf mehrfache Weise eng verbunden, wobei festzuhalten ist, dass er von den aktiven 38 Jahren als Professor nur 16 Jahre in Wien verbrachte: Eine erste ordentliche Professur für Mathematik 1873 bis 1876; seine zweite Wiener Professur 1894 bis 1900 für theoretische Physik war von einer wachsenden Feindseligkeit gegenüber seiner statistischen Mechanik und Gastheorie geprägt. Die dritte Professur in Wien ab 1902 war von physischen wie psychischen Leiden überschattet. Mit zunehmender Sehschwäche, Nieren- und Blasenproblemen, von schwerem Asthma und andauerndem Kopfweh geplagt, war Boltzmann den Anforderungen des Tages kaum mehr gewachsen. Sich häufende Beurlaubungen vom Dienst waren durch eine schwere Neurasthenie, die heute wohl als bipolare Störung diagnostiziert würde, bedingt.

Reise ins Eldorado

Umso beachtlicher ist bis in die letzten Lebensjahre hinein seine Reise- und Vortragstätigkeit, die ihn in einer dritten Amerikareise noch 1905 nach Berkeley führt. Dieser Reise verdanken wir den Bericht "Reise eines deutschen Professors ins Eldorado", ein heiteres Stück Prosa, das uns Boltzmann in seiner besten Fastnachtsstimmung zeigt. Wer den schwierigen mathematischen Abhandlungen Boltzmann nicht folgen will, sollte sich dieses Lesevergnügen nicht entgehen lassen (hier zu finden; englische Fassung von Walter Kutschera hier). Boltzmann war – im Unterschied zu seinen Lehrern – keine lokale Figur, sondern schon zu Lebzeiten eine internationale Zelebrität weit über die Grenzen seines Landes und Faches hinaus.

Boltzmann, der Philosoph

1903 übernimmt Boltzmann an der Universität Wien 1903 in der Nachfolge der Professur für "Philosophie, insbesondere Geschichte der induktiven Wissenschaften" seines Kommilitonen, Freundes und Widersachers in Fragen der Atomistik, Ernst Mach, den Lehrauftrag "Philosophie der Natur und Methodologie der Naturwissenschaften". Er widmet sich dieser neuen Aufgabe mit all seiner Begeisterung, muss aber bald erkennen, dass seine Kraft dafür nicht mehr ausreicht und bricht die Vorlesungstätigkeit, der großes öffentliches Interesse galt, ab.

Boltzmann, der Physiker


Worin liegt Boltzmanns überragende Bedeutung? Nehmen wir den Newton zugeschriebenen Ausspruch der Charakterisierung seiner Position in der Welt der Wissenschaft, er stehe "auf den Schultern von Riesen" ("If I have seen further it is by standing on ye shoulders of giants") im Wortsinn, so ist Boltzmann einer der Giganten der Naturforschung. Der Zusammenhang zwischen Entropie und statistischer Wahrscheinlichkeit von Zuständen in verdünnten Gasen (H-Theorem), die wahrscheinlichkeitstheoretische Interpretation des zweiten Hauptsatzes der Wärmetheorie, die heftigsten Widerspruch erregte (Loschmidt, Zermelo, Poincaré, Planck), zusammengefasst in der Formel S = k logW, die sein Grab ziert, die "Boltzmann-Gleichung", die aus technischen Anwendungen (z. B. in der Aerodynamik) nicht wegzudenken und auch heute noch Gegenstand der Forschung ist und schließlich der "Boltzmann-Faktor" exp (-E/kbT), der die Wahrscheinlichkeit angibt, ein System in einem Zustand der Energie E zu finden, mit T der Temperatur und kb, der "Boltzmann-Konstante". Dieser "Boltzmann-Faktor" ist in den Naturwissenschaften und in der Technik der am häufigsten gebrauchte Faktor schlechthin und trägt seinen Namen weiter in alle Zukunft. Boltzmann bleibt ein Gigant.

Boltzmanns Leben endete tragisch. Am Tag vor der Abreise der Familie aus dem langjährigen Feriendomizil in Duino bei Triest und in Anbetracht der bevorstehenden Rückkehr in seine Pflichten an der Universität Wien bereitet er am 5. September 1906 seinem Leben ein Ende.

Zum Autor:
Wolfgang L. Reiter, Physiker, Ministerialrat i. R. und Mitbegründer des Internationalen Erwin Schrödinger Instituts für mathematische Physik, ist Honorarprofessor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Wien. (© privat)