Boltzmann wäre vom Computer begeistert gewesen
| 18. Februar 2019Der Wiener Physiker Ludwig Boltzmann war einer der Wegbereiter der Atomistik. Rund 150 Jahre später verwirklichen Christoph Dellago und seine KollegInnnen von der Fakultät für Physik Boltzmanns Traum: Mit Computersimulationen berechnen sie die Bewegungen und Strukturen einzelner Atome.
uni:view: Der Geburtstag von Physiker Ludwig Boltzmann jährt sich am 20. Februar zum 175. Mal. Worin liegen seine großen Errungenschaften?
Christoph Dellago: Ludwig Boltzmann gehört ohne Zweifel zu den wichtigsten PhysikerInnen des 19. Jahrhunderts. Er war einer der WegbereiterInnen der Atomistik, also der Idee, dass die Materie, die uns umgibt, aus winzigen Atomen besteht. Atome können sich zu Molekülen verbinden und die Wechselwirkungen dieser im Grunde einfachen Bausteine führen zu unglaublich komplexen und reichhaltigen Phänomenen inklusive biologischer Prozesse. Zeit seines Lebens hat Ludwig Boltzmann für die Atomtheorie gekämpft und dabei zahlreiche theoretische Ansätze und mathematische Werkzeuge entwickelt, die sich als sehr tragfähig herausgestellt haben.
Doch nicht nur das: Zusammen mit James Clerk Maxwell und Josiah Willard Gibbs kann Ludwig Boltzmann als einer der Begründer der statistischen Mechanik betrachtet werden, welche sich mit den Eigenschaften von Systemen aus vielen Bestandteilen (zum Beispiel Atome oder Moleküle) beschäftigt, um deren makroskopische Eigenschaften aus ihrer mikroskopischen Zusammensetzung zu erklären. In dieser physikalischen Theorie betrachtet man nicht das spezifische Verhalten individueller Atome oder Moleküle, sondern nimmt einen statistischen Standpunkt ein und untersucht die Wahrscheinlichkeiten verschiedener Zustände. Durch konsequente Anwendung des statistischen Ansatzes konnte Boltzmann die sogenannte Boltzmann-Gleichung aufstellen, welche die zeitliche Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Orte und Geschwindigkeiten von Atomen in einem Gas beschreibt.
uni:view: Worin liegt die besondere Bedeutung dieser Gleichung?
Dellago: Die Gleichung zeigt, wie sich ausgehend von einem Nichtgleichgewichtszustand in einem Gas das Gleichgewicht in Form der sogenannten Maxwell-Boltzmann-Verteilung einstellt. Boltzmanns Arbeiten haben wichtige Einsichten dazu geliefert, wie aus der reversiblen (also umkehrbaren) Dynamik der Atome irreversibles (also unumkehrbares) Verhalten makroskopischer Systeme entstehen kann.
uni:view: Ludwig Boltzmann war ein vielseitiger Wissenschafter …
Dellago: Das war er! Er hat sich auch mit der sogenannten thermischen Strahlung beschäftigt, die von Materie emittiert und absorbiert wird. Josef Stefan, der genau wie Boltzmann Professor an der Universität Wien war, hatte mit Hilfe von Experimenten herausgefunden, dass die von einem sogenannten schwarzen Körper abgegebene Strahlungsleistung proportional zur vierten Potenz der absoluten Temperatur ist. Ludwig Boltzmann konnte diese Gesetzmäßigkeit aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und der Elektrodynamik ableiten und deshalb spricht man vom Stefan-Boltzmann-Gesetz. Darüber hinaus hat sich Boltzmann auch als Experimentalphysiker, beispielsweise hat er die Dielekrizitätskonstante von Gasen bestimmt, und als Philosoph betätigt.
Wenn man durch den Wiener Zentralfriedhof spaziert, stößt man bei den Ehrengräbern (Gruppe 14C) auf den Grabstein von Ludwig Boltzmann, auf dem die berühmte Formel S = k log W verewigt wurde. (© Daderot/wikipedia CC BY-SA 3.0)
uni:view: Inmitten der Ehrengräber auf dem Wiener Zentralfriedhof findet man das Grab von Ludwig Boltzmann, auf dessen Grabstein die Formel S = k log W eingraviert ist. Was hat es damit auf sich?
Dellago: Mit der Verknüpfung zwischen der Entropie S des Zustands eines makroskopischen Systems mit der Anzahl W dessen mikroskopischen Realisierungen hat Boltzmann eine Brücke zwischen der mikroskopischen Welt der Atome und unserer makroskopischen Welt geschlagen. Die Konstante k wird übrigens Ludwig Boltzmann zu Ehren Boltzmann-Konstante genannt. Die Formel ist zurecht auf Boltzmanns Grabstein abgebildet, weil sie sicher zu seinen größten und weitreichendsten Leistungen zählt (obwohl sie von Max Planck erstmals in dieser Form ausgedrückt wurde).
Die Entropie S aus Boltzmanns Formel ist die Grundlage für die Formulierung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, welcher besagt, dass nur jene Prozesse spontan ablaufen, bei welchen die Entropie zunimmt. So wird beispielsweise Wärme immer von einem warmen zu einem kalten Körper übertragen und sie fließt von selbst nie in die entgegengesetzte Richtung. Boltzmann hat erkannt, dass man die Entropie eines makroskopischen Zustandes statistisch interpretieren und aus den Wahrscheinlichkeiten von Mikrozuständen, welche durch Orte und Geschwindigkeiten aller Atome beschrieben werden, berechnen kann.
uni:view: Können Sie ein Beispiel nennen?
Dellago: Anschaulich klar machen kann man sich den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, wenn man die Entropie als Maß für die Unordnung auffasst. Wie wir alle aus eigener leidvoller Erfahrung wissen, nimmt Unordnung spontan zu, wenn wir nicht ständig dagegen arbeiten. Der Grund dafür ist einfach, dass es weitaus mehr ungeordnete als geordnete Zustände gibt, sodass eine zufällige Zeitentwicklung eher Unordnung produziert als Ordnung. Mit seiner statistischen Interpretation des zweiten Hauptsatzes hat Boltzmann die Grundlagen für unser Verständnis vieler grundlegender Prozesse in der Physik, Chemie und Biologie gelegt.
Christoph Dellago ist seit 2003 Professor für Computational Physics an der Universität Wien. Computer nutzt er als Forschungsinstrument, wobei ihn insbesondere die statistische Mechanik von komplexen Systemen wie Flüssigkeiten, Festkörpern und Nanokristallen interessieren. Gemeinsam mit Harald A. Posch publizierte er kürzlich den Artikel "Realizing Boltzmann's dream: computer simulations in modern statistical mechanics". (© derknopfdruecker.com)
uni:view: Inwiefern sind Boltzmanns Erkenntnisse heute noch aktuell?
Dellago: Die Erkenntnisse Ludwig Boltzmanns sind in vielen Bereichen der modernen Forschung noch immer von großer Bedeutung. Ganz besonders trifft das auf mein eigenes Fachgebiet, der Computersimulation von Materialien, zu. Mit Hilfe leistungsfähiger Computer wie dem Vienna Scientific Cluster können wir heute berechnen, wie sich einzelne Atome bewegen und welche Strukturen sie bilden, um daraus die Eigenschaften von Materialien vorherzusagen. Gewissermaßen verwirklichen wir mit Computersimulationen Boltzmanns Traum und man kann sich nur vorstellen, wie begeistert Boltzmann vom Computer als Forschungsinstrument gewesen wäre.
In unserer Arbeit greifen wir ständig auf Boltzmanns Ideen zurück und viele Methoden der molekularen Computersimulation haben ihre theoretische Grundlage in Boltzmanns Erkenntnissen. Wenn wir beispielweise im Rahmen von Monte-Carlo-Simulationen Zufallszahlen benutzen, um molekulare Strukturen zu erzeugen, bedienen wir uns von Boltzmann erdachter Ensembles. Dabei erlaubt uns Boltzmanns Ergodenhypothese die komplizierte Zeitentwicklung von molekularen Systemen zu vernachlässigen und Zeitmittelwerte durch Ensemblemittelwerte zu ersetzen. Boltzmanns statistische Betrachtungsweise ist auch die Grundlage für die Analyse von molekular-dynamischen Simulationen, mit welchen man die Bewegung von Atomen und Molekülen im Detail verfolgen und beispielsweise untersuchen kann, wie sich ein Gitterfehler durch einen Festkörper bewegt, eine chemische Reaktion abläuft oder sich ein Protein faltet.
Bei solchen Prozessen spielt der sogenannte Boltzmann-Faktor, welcher die Wahrscheinlichkeit von Zuständen in Systemen mit einer bestimmten Temperatur beschreibt, eine wichtige Rolle. Boltzmanns Bedeutung für die aktuelle Wissenschaft geht jedoch natürlich weit über die Computersimulation in den Materialwissenschaften hinaus und sein Einfluss auf die Entwicklung der modernen Physik ist kaum zu überschätzen.
uni:view: Danke für das Gespräch! (hm)