Kollektive Sicherheit im digitalen Zeitalter
| 23. Oktober 2018Wie steht es um unsere (Rechts-)Sicherheit in Europa? Und welche Rolle spielt dabei das Internet? uni:view sprach mit Zeithistorikerin Claudia Kraft sowie Rechtswissenschafter und Datenschutzexperte Nikolaus Forgó zur aktuellen Semesterfrage.
uni:view: Frau Kraft, wie schaut es aktuell mit der kollektiven Sicherheit in Europa aus?
Kraft: Nach 1989 gab es eine große Aufbruchsstimmung in Richtung "Europa wächst wieder zusammen". Es war klar, dass es eine neue Sicherheitsordnung in Europa geben wird, die sich durch den raschen Beitritt der ost- und mitteleuropäischen Staaten in die NATO und EU etabliert hat. Aktuell ist dieser Enthusiasmus erloschen. Russland, das nicht Teil dieser westlichen Sicherheitsordnung wurde und deren Ausdehnung nach Osten zunehmend kritisch sieht, wird spätestens seit dem Ukraine-Krieg von seinen westlichen Nachbarn als potentielle Bedrohung gesehen. Gerade in den baltischen Staaten wird die Sicherheitsarchitektur der NATO als extrem wichtig eingeschätzt.
Gleichzeitig driftet das Zusammendenken von militärischer Sicherheit und europäischer Einigung immer stärker auseinander. Das wird besonders am Beispiel Polens und Ungarns deutlich, wo etwa die aktuellen migrationspolitischen Herausforderungen vor allem in Debatten über ein rigides Grenzregime und ein Betonen nationaler Souveränität verhandelt werden. Sehr viel weniger hört man von gesamteuropäischer Solidarität als Voraussetzung für eine europäische Sicherheitsarchitektur.
Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Die Semesterfrage im Wintersemester 2018/19 lautet "Was eint Europa?". In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zum Thema Sicherheit und Recht in Europa hat uni:view mit der Zeithistorikerin Claudia Kraft sowie dem Datenschutzexperten Nikolaus Forgó gesprochen.
uni:view: Braucht es aus Ihrer Sicht mehr sicherheitspolitische Instrumente, Herr Forgó?
Forgó: Sowas hat immer auch Auswirkungen auf Grundrechtspositionen und individuelle Freiheiten. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir uns da in einer sehr liberalen Entwicklung befinden. Mit der zunehmenden Digitalisierung ist es immer schwieriger geworden, liberale, aufklärerische, aus dem 18. Jahrhundert stammende Grundrechtspositionen aufrechtzuerhalten. Wohin das führen kann, sehen wir am Beispiel China, wo inzwischen soziale Indikatoren und automatisierte Bezifferungen handfeste Auswirkungen auf den Alltag haben können, ohne dass man als betroffenes Individuum noch Gegenstrategien entwickeln könnte. Deshalb glaube ich, dass die Entwicklung in eine Richtung führt, bei der man als liberale westliche Demokratie sehr vorsichtig sein muss, um Freiheit und Sicherheit in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen.
uni:view: Welche Rolle spielen hierbei Informationstechnologien?
Kraft: Die Möglichkeit, sich zu informieren, und auch die Möglichkeit, mit der zunehmenden Menge an Informationen umzugehen, sehe ich als Voraussetzungen einer funktionierenden demokratischen Ordnung an. Da ist natürlich der Staat in gewisser Weise gefordert – aber auch in meiner Position als Hochschullehrerin sehe ich mich in der Verantwortung, die Studierenden zu befähigen, mit der Informationsflut umzugehen. Dabei sind diese permanente Informationsflut und das Bedürfnis, ständig in den sozialen Medien präsent zu sein, etwas, das sich staatlichem Handeln entzieht und auch entziehen muss. Zugleich finde ich es erschreckend, wie sehr sich Menschen zu Sklaven dieser neuen Formen von Medialität machen lassen. Wie soll man auf liberale Art und Weise regulieren, dass alle Menschen in aufgeklärter Tradition soziale Medien nutzen?
Forgó: Ich stimme Ihnen zu, allerdings klingt es für mich etwas zu negativ. Ich würde zwei Dinge stärker betonen. Erstens: Wir haben dank des Internets so viel Freiheit an Information, wie wir uns früher nie haben vorstellen können. Das Internet hat fast alle Bereiche revolutioniert und auch emanzipiert. Man muss beispielsweise nicht mehr dem Autoverkäufer glauben, dass ein bestimmtes Auto das beste der Welt sei oder der Kirchenzeitung, dass das katholische Weltbild das einzig richtige sei. Zweitens: Ich glaube, dass die Attraktivität des sich ständigen Präsentierens auch deshalb sehr menschlich ist, weil es ein Grundbedürfnis, nämlich das der Kommunikation, befriedigt. Früher war die Menge an Kommunikation allein durch utopische Kommunikationskosten eingeschränkt. Auch dieser Punkt hat ein riesiges emanzipatorisches Versprechen.
Kraft: Ich bin skeptisch, inwieweit diese Masse an Informationen tatsächlich emanzipatorisch wirkt. Wenn ich mir anschaue, wie viele Falschmeldungen es gibt, aus denen sich dann politische Konflikte und neue politische Frontstellungen ergeben, bin ich nicht so euphorisch über diese Möglichkeit der grenzenlosen Kommunikation. Ein Mehr an Kommunikation ist meines Erachtens nicht gleichzeitig ein Mehr an Aufklärung und Wissensakkumulation.
Auch aus meiner Perspektive der Historikerin, die sich mit Frauen- und Geschlechtergeschichte beschäftigt, sehe ich mit ziemlichem Grausen, dass dieses Mehr an Kommunikation und das permanente sich selbst Stilisieren einen ziemlichen Backlash für emanzipatorische Entwicklungen darstellt. An der Darstellung vieler junger Frauen in den sozialen Medien sehe ich absolut nichts Politisch-Aufklärerisches, Individuell-Befreiendes, sondern ein sich Einordnen in eine durch Medien und Marktmacht geformte Schablone, in die sich Menschen freiwillig pressen lassen. Das finde ich persönlich erschreckend.
Forgó: Ich glaube, man muss hier vorsichtig differenzieren. Ein Beispiel: Ich interessiere mich für mechanische Computertastaturen. In Wien hätte ich vor 20 Jahren kaum die Möglichkeit gehabt, jemanden mit demselben exotischen Interesse zu finden. Im Internet ist die Gruppe, die sich für mechanische Computertastaturen interessiert, genau einen Klick entfernt. Darin liegt ein emanzipatorisches Potenzial. Richtig ist aber natürlich, dass diese Technologien auch für Fake News, Hasspostings etc. missbraucht werden. Aber die Frage ist weniger, ob sie missbraucht werden können, sondern ob es einen fruchtbaren Boden in einer Gesellschaft dafür gibt.
Im Rahmen der Semesterfrage "Was eint Europa?" erklären Jus-Studierende der Universität Wien europäische Rechtstexte. Den Anfang macht Daniel Leisser (Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Rechtslinguistik) mit der EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO).
uni:view: Ihre Prognose zur kollektiven Sicherheit bzw. Rechtssicherheit Europas?
Kraft: Dazu lassen sich kaum valide Voraussagen treffen – alle, die ich machen würde, sind eher negativ. Gerade in Ost- und Mitteleuropa gibt es ja Tendenzen, Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit nicht mehr als unabdingbaren Bestandteil demokratischer Ordnung zu sehen. Doch auch über diese Region hinaus haben populistische, meist rechtspopulistische, Bewegungen derzeit Auftrieb. Dementsprechend gerät die Vorstellung eines gemeinsamen Raums des Wohlstands, der Sicherheit und des Rechts – der ja sowieso de facto so nie funktioniert hat –, immer stärker in die Defensive.
Forgó: Das Wichtigste ist – und darum dreht sich ja auch unser Gespräch – die Herstellung von Transparenz und Diskurs. Das gilt auch für das Rechtssystem. Ob das gelingen wird, wird sich zeigen. Die Zeichen stehen aktuell nicht so gut, da sind wir uns wohl einig.
uni:view: Im Sinne unserer Semesterfrage: Was eint Europa denn überhaupt?
Forgó: Ich sage nur zwei Worte: Grundwerte und Grundrechte.
Kraft: Ich würde sagen, Europa eint ein unglaublich hohes Maß an Gewalterfahrung, die es im 20. Jahrhundert – vor allem im Zweiten Weltkrieg – gegeben hat. Gleichzeitig trennt diese Erfahrung, weil Gewalt in sehr unterschiedlichen Konstellationen ausgeübt wurde und daher auch unterschiedlich erinnert wird. Somit steckt in der europäischen Gewaltgeschichte der ersten Jahrhunderthälfte immer noch viel Konfliktpotenzial. Zudem eint das westliche Europa auch seine koloniale Vergangenheit. Hier stellt sich die Frage: Wie gehen wir heute mit Migration um, wenn wir wissen, dass Europa Jahrhunderte lang andere Weltregionen ausgebeutet hat, was zu dem strukturellen ökonomischen Ungleichgewicht in der Gegenwart beigetragen hat. Europa müsste sich gemeinsam damit auseinandersetzen.
uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (mw)
Nikolaus Forgó ist seit Oktober 2017 Professor für Technologie- und Immaterialgüterrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im IT-Recht, insbesondere Datenschutz- und Datensicherheitsrecht. Er leitet den postgradualen Universitätslehrgang "Informations- und Medienrecht" an der Universität Wien.
Claudia Kraft ist seit März 2018 Professorin für Zeitgeschichte: Kulturgeschichte – Wissens- und Geschlechtergeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Sie forscht u.a. zu Vergleichender europäischer Zeitgeschichte, Geschlechtergeschichte, Geschichte des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa und Transnationaler Rechtsgeschichte im 20. Jahrhundert.