Keine Euthanasie im Psychiatrischen Krankenhaus in Hall

Ein Psychiatrisches Krankenhaus in Tirol, ein 1942 angelegter, später in "Vergessenheit" geratener Friedhof. Dreieinhalb Jahre lang untersuchte eine ExpertInnenkommission die Geschichte des Friedhofs und seiner Toten. Die Ergebnisse liegen nun vor.

Im Nationalsozialismus begann ab Ende 1939 unter dem Decknamen "Aktion T 4" – benannt nach dem Straßennamen der Berliner Organisationszentrale in der Tiergartenstraße 4 – in Tötungsanstalten die Mordaktion gegen geistig Behinderte und unheilbar Kranke.

Rund 70 Jahre später wurde auf dem Gelände des Landeskrankenhauses (Psychiatrie) in Hall in Tirol ein aufgelassener Friedhof entdeckt. Schnell war klar: Auf diesem wurden seit seiner Anlegung im November 1942 bis April 1945 insgesamt 228 InsassInnen der damaligen "Heil- und Pflegeanstalt Hall" bestattet.


1830 wurde die staatliche "k.k. Provinzial-Irren(heil)anstalt" Hall in Tirol eröffnet. 1938 in "Gau-Heil- und Pflegeanstalt Solbad Hall" umbenannt, war sie mit Kriegsbeginn die größte derartige Anstalt im Gau Tirol-Vorarlberg. Zuweisungen erfolgten u.a. durch Amtsärzte, über die Psychiatrisch-Neurologische Universitätsklinik in Innsbruck und durch Überstellungen u.a. aus Südtirol; später auch aus Vorarlberg. (Foto: Anton-kurt/Wikimedia)



Nachdem die Anstalt Hall von 1940 an in die "Aktion T4" eingebunden war, stand die Frage im Raum, ob die Toten auf dem Anstaltsfriedhof Opfer der dezentralen NS-Euthanasie waren, die nach dem Stopp der "Aktion T4" im Sommer 1941 in vielen Heil- und Pflegeanstalten praktiziert wurde? Sollte der Friedhof die Ermordung tarnen?


1940/41 wurden 647 Personen aus Tiroler und Vorarlberger Anstalten zur Ermordung in die Euthanasie-Tötungsanstalt Hartheim im Schloss Hartheim bei Linz gebracht. Die HPA Hall war daran organisatorisch beteiligt und diente als Sammelanstalt für PsychiatriepatientInnen aus Tirol und Vorarlberg. 300 PatientInnen wurden aus und über die Anstalt nach Hartheim verfrachtet, weitere 60 1942 zur Tötung in die HPA Niederhart in Linz. (Foto: sa/Wikipedia)



ExpertInnenkommission eingesetzt

Im Herbst 2010 initiierte die Tiroler Landeskrankenanstalten GmbH ein Forschungsprojekt zur Klärung der Umstände. 2011 setzte die Tiroler Landesregierung eine unabhängige ExpertInnenkommission ein, in die das laufende Projekt integriert wurde. Vorsitzender der Kommission war Bertrand Perz von der Universität Wien.

Der Euthanasie-Verdacht hat sich nicht bestätigt, wie Historiker Bertrand Perz erklärt: "Natürlich können wir nicht ausschließen, dass einzelne PatientInnen getötet worden sind, aber wir haben keine Hinweise auf einen systematischen dezentralen Krankenmord gefunden."


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Interdisziplinäre Forschungsarbeit

Die Kommission führte historische, sozialwissenschaftliche, archäologische, anthropologische und medizinische Untersuchungen durch. Historisch wurde beispielsweise das damalige Gesundheitssystem, das Personal, die Leitung, die Geschichte der Anstalt und des Friedhofs untersucht. Sporadisch vorhandene Krankenakten und Korrespondenzen dienten dabei als Quellen. Auch wurden statistische Vergleiche mit der Sterblichkeit in anderen Heil- und Pflegeanstalten zu dieser Zeit durchgeführt.

Die ExpertInnen schauten sich zudem u.a. auch die Bestattungsformen auf dem Friedhof an, wie beispielsweise die Beschaffenheit der Särge, die Existenz von Grabbeigaben etc. "Aus archäologischer Sicht sprechen alle Indikatoren für einen regulären christlichen Friedhof", erläutert Bertrand Perz die Ergebnisse: "Wir wissen im Gegensatz dazu von vielen Anstalten, in denen Euthanasie durchgeführt wurde, dass die getöteten Menschen oftmals einfach in Massengräbern verscharrt wurden."



Vor allem die interdisziplinäre Zusammenarbeit reizte Bertrand Perz an dem Projekt. Der Historiker interessiert sich bei seiner Arbeit generell für die "Tabuzonen der Gesellschaft". (Foto: Barbara Mair)



Hohe Sterblichkeit

"Im Zusammenspiel aller Untersuchungen erhielten wir ein Bild, das wenige Widersprüche aufweist. Wir fanden keinen Hinweis darauf, dass in der HPA Hall zwischen 1942 und 1945 ein systematisch geplanter dezentraler Krankenmord stattgefunden hat", resümiert der Historiker. Trotzdem waren die Verhältnisse in Hall alles andere als harmlos So stieg die Sterblichkeit in der HPA Hall in der zweiten Kriegshälfte stark an. Osteologische Untersuchungen wiesen zudem bei zahlreichen Skeletten prämortale Knochenbrüche und Blutungen unterhalb der Knochenhaut nach.

Systematische Mangelversorgung


"Die Knochenbrüche sagen jedoch nichts über einen geplanten Krankenmord, sondern mehr über Gewalt in psychiatrischen Anstalten aus", so Bertrand Perz. "Die kriegsbedingten schlechten Bedingungen wie Personalmangel, ungeheizte Räume, eine extrem dichte Belegung, kaum medikamentöse Versorgung etc. trugen sicherlich zu einer Gewaltzunahme bei", vermutet der Historiker. "In der Mangelversorgung zeigt sich allerdings auch die ideologische Komponente, denn im NS wurden PatientInnen psychiatrischer Anstalten bewusst benachteiligt", erläutert Bertrand Perz und betont: "Wir konnten also keine selektiven Tötungen einzelner PatientInnen feststellen, aber klar ist, dass sich die systematische ungleiche Verteilung von Lebensmitteln für viele tödlich auswirkte."

Die sterblichen Überreste der Verstorbenen sind nach dem Endbericht der ExpertInnenkommission feierlich auf dem kommunalen Friedhof in Hall beigesetzt worden. (mw)

Literaturtipp:
Bertrand Perz, Thomas Albrich, Elisabeth Dietrich-Daum, Hartmann Hinterhuber, Brigitte Kepplinger, Wolfgang Neugebauer, Christine Roilo, Oliver Seifert, Alexander Zanesco (Hrsg.): Schlussbericht der Kommission zur Untersuchung der Vorgänge um den Anstaltsfriedhof des Psychiatrischen Krankenhauses in Hall in Tirol in den Jahren 1942 bis 1945, Band 1, Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 2014. [weitere Bände mit den Detailergebnissen sind in Vorbereitung]