Kathrin Sartingen: "In Brasilien ist immer alles zweischneidig" (Teil 2)

Im zweiten Teil des uni:view-Interviews spricht Brasilien-Expertin Kathrin Sartingen über ihren eigenen Weg zur Lusitanistik, die Stellung dieser Disziplin in der europäischen Forschungslandschaft und ihre persönlichen Erfahrungen in Brasilien.

uni:view: Lusitanistik ist die "Wissenschaft von der portugiesischen Sprache und Literatur" – der Name leitet sich vom lateinischen Wort für Portugal "Lusitania" ab – und ist ein Fach innerhalb der Romanistik. Wie sind Sie persönlich zur diesem Fach gekommen …

Kathrin Sartingen: … das ja wirklich nicht jeder kennt, wie man zugeben muss. Mein persönlicher Weg zur Lusitanistik lief zunächst über das Gymnasium, wo ich mit Latein angefangen habe und es für mich naheliegend war, bei den "Erben des Lateinischen", den "neulateinischen" Sprachen, zu bleiben und Romanistik zu studieren.
Und Lusitanistik selbst – das war eine Art "Erpressung" durch meinen damaligen Hispanistik-Professor: Ich hatte mich im dritten Semester Spanisch für ein Stipendium nach Madrid beworben, aber es gab nur welche für Portugal... Nach dem Motto: "Sie bekommen das Stipendium, aber nur für Portugal." Als ich meinem Professor daraufhin sagte, dass ich gar nicht Portugiesisch studiere, meinte er nur: "Dann wird es Zeit". Und so bin ich nach Portugal gekommen. Es stellte sich schnell heraus, dass ich im richtigen Land gelandet bin.

uni:view: Heute sind Sie Professorin für Lusitanistik an der Universität Wien. Hat sich Ihrer Meinung nach im Laufe der letzten Jahre etwas an der "Orchideenrolle" der Lusitanistik geändert?

Kathrin Sartingen: Im deutschsprachigen Raum gibt es wirklich nur eine Handvoll Professuren für Lusitanistik. Wir müssen immer mehr beklagen, dass die Lusitanistik eher eines der Fächer ist, die eingespart werden, wenn es im Budget eng wird – wie wir gerade jetzt erschreckend an den Universitäten Aachen und Leipzig sehen. Ich denke, dass die geringe Größe des Faches mit dem fehlenden Prestige dieser Sprache zusammenhängt und natürlich damit, dass Portugiesisch kein Schulfach ist.

Ich muss allerdings auch betonen, dass es uns hier in Wien noch sehr gut geht. 2011 konnte ich den Internationalen Lusitanistentag an der Universität Wien ausrichten, und wir hatten erstmalig an die 300 TeilnehmerInnen – das ist für ein Fach, das bis dato als Orchidee gegolten hat, eine beachtliche Zahl. Vizerektorin Susanne Weigelin-Schwiedrzik sagte im Rahmen der Eröffnungsfeier: "Der Lusitanistentag spielt Zukunftsmusik. Wir werden sicherlich zukünftig in die Lusitanistik investieren". Und das merke ich auch. Wir haben mittlerweile drei Abkommen mit Universitäten in Brasilien angebahnt, davon sind zwei schon unterzeichnet. Das ist ein großer und wichtiger Schritt für uns und die Universität Wien.

uni:view: Von Portugal war es für Sie dann nicht mehr weit nach Brasilien, wo Sie viele Jahre gelebt und gearbeitet haben und wohin Sie auch immer wieder zurückkehren. Wann hat Sie der "Brasilien-Virus" befallen?

Kathrin Sartingen:
Einmal Brasilien, immer Brasilien. Es lässt einen nicht mehr los. Natürlich ist es passiert, als ich 1988 das erste Mal dort war. Abgesehen von allen Klischees, der wahnsinnigen Schönheit des Landes und der ungeheuren Liebenswürdigkeit, Offenheit und Gastfreundschaft der Bevölkerung hat mich das Gefühl fasziniert, hier etwas erreichen, kreativ sein zu können. Für mich ist Brasilien wirklich ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

uni:view: Am Strand in Rio treffen sich alle: Menschen aus den Favelas ebenso wie Leute aus den großen Apartmenthäusern. Wie egalitär ist Brasiliens Gesellschaft?

Kathrin Sartingen: Das kann ich nicht eindeutig beantworten. Das Land ist einfach ambivalent und sehr durchmischt. Ich würde sagen, auf der einen Seite, ist die Gesellschaft egalitär: Wenn ich an den Strand gehe, dann sehe ich dort wirklich von der Ethnizität, von der Hautfarbe, von der sexuellen Ausrichtung, vom Alter, vom Geld, etc. alle möglichen Menschen.

Aber dann gibt es noch die andere Seite: Brasilien war mit 1888 das letzte Land, das die Sklaverei abgeschafft hat. Offiziell abgeschafft… In Wirklichkeit manifestieren sich die Klassenunterschiede immer noch sehr deutlich und betreffen dabei alle Gesellschaftsschichten. Die Hausmädchen, die wir in Brasilien treffen, sind eben weiterhin fast alle dunkelhäutiger als diejenigen, die die Hausmädchen einstellen. Und das ist dann doch nicht egalitär.

uni:view: Sehen Sie hier gar keine Veränderungen?

Kathrin Sartingen:
Früher hatten meine KollegInnen ein Hausmädchen, das seit ihren Kindertagen in der Familie, in einem Zimmer im hinteren Teil des Hauses, lebte – zum Mindestlohn, für Kost und Logis, dabei den ganzen Haushalt machte und die Kinder versorgte –  das war für meine europäischen Augen dann fast wie "moderne Sklaverei".
Diese Situation hat sich – zumindest dort, wo die Effekte des Wirtschaftswachstums angekommen sind – zum Teil verbessert. Doch immer noch existieren sehr viele Menschen, die in diesen extremen Abhängigkeitssituationen leben müssen.
 
uni:view: Sie haben ja auch selbst in Brasilien gelebt. Wie sind Sie in ihrer eigenen Wohnsituation – in Brasilien ist es ungewöhnlich, in Mittelschichtshaushalten kein Hausmädchen zu beschäftigen – damit umgegangen?

Kathrin Sartingen: Als ich Anfang der 1990er-Jahre nach Campinas an die dortige Universität ging, um ein Lektorat aufzubauen, bin ich in ein kleines Viertel in die Nähe der Universität gezogen. Traumhaft. Ich hatte plötzlich ein schönes Haus mit Pool am Waldrand. Alle meine KollegInnen sagten mir natürlich sofort, dass ich unbedingt mindestens zwei Schäferhunde und natürlich Dienstpersonal, das im Haus wohnt, brauche. In meinen Augen kam das gar nicht in Frage, ich komme aus der intellektuellen Mittelschicht und hatte eher sozialdemokratische Ideologien. "Du wirst schon sehen", hieß es.

Nun, eines Tages kam ich nach Hause und alles war weg, mein Haus war praktisch leergeräumt. Ab da hatte ich dann auch eine Angestellte…, die wenigstens tagsüber im Haus war. Ich musste meine europäischen Idealvorstellungen etwas zurückstecken und dieses Spiel mit Hauspersonal mitspielen, einfach weil die gesellschaftliche Situation in Brasilien das "verlangte". Zugleich habe ich Antonia ein gutes Gehalt bezahlt und wusste, dass sie zumindest einen festen Job hatte – aber natürlich: Sie war eine Schwarze, die für mich den ganzen Haushalt erledigt hat. In Brasilien ist immer alles zweischneidig.

In den vergangenen 20 Jahren hat sich strukturell nur wenig geändert, auch wenn viele Brasilianer absolut über mehr Einkommen verfügen. Sicherlich sind es nicht zuletzt diese "Zweischneidigkeiten", d.h. die noch immer bestehenden Ungleichgewichte (etwa bei der Einkommensverteilung), die auch die Proteste rund um die WM auslösen. Hoffnung gibt es aber immer, und zumindest vorübergehend wird der Fußball es schaffen, Arm und Reich zu vereinen… auch wenn das natürlich unverändert politisch ausgenutzt wird. (td)

Lesen Sie mehr über Brasilien, ein Land, das in Bewegung ist und in dem Fußball, Kultur und Alltag untrennbar miteinander verbunden sind im ersten Teil des Interviews mit Kathrin Sartingen im Dossier "Olá Brasil!" – auf uni:view.

Univ.-Prof. Dr. Kathrin Sartingen hat seit September 2008 die Professur für Lusitanistik am Institut für Romanistik der Universität Wien inne.