Kastalia: "Gleichstellung ist mehr als Geschlechtergleichstellung"
| 19. November 2020Die Kastalia-Statue im Arkadenhof der Universität Wien ist Zeitzeugin der letzten hundert Jahre. Im Interview erklärt sie – im Namen der Abteilung für Gleichstellung und Diversität –, dass es bei Gleichstellungsarbeit nicht nur um Geschlechterdifferenzen geht.
Kastalia, beim letzten Mal haben wir schon über Frauenanteile, Gehaltsunterschiede und Gender Bias gesprochen. Heißt das, bei Gleichstellungarbeit geht es vor allem darum, Unterschiede zwischen Männern und Frauen auszubügeln?
Kastalia: Nein, Gleichstellung ist mehr als Geschlechtergleichstellung. Aber im letzten Jahrhundert ist es vor allem gelungen, die Diskriminierung von Frauen deutlich zu verringern. Deshalb können wir in diesem Bereich schon auf viele rechtliche Errungenschaften zurückblicken und Frauenförderung ist in der Arbeitswelt angekommen. Eine wichtige Rolle hat dabei die Einführung des Bundes-Gleichbehandlungsgesetzes (B-GlBG) gespielt, das ein Gleichbehandlungsgebot von Frauen und Männern und ein Frauenförderungsgebot vorschreibt. Auch an der Uni Wien gibt es seit 2005 einen Frauenförderungsplan, der 2019 in Frauenförderungs- und Gleichstellungsplan umbenannt wurde und noch umfangreicher geworden ist. Das B-GlBG legt fest, dass Menschen mit unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Weltanschauung, sexueller Orientierung oder unterschiedlichem Alter gleichbehandelt werden müssen.
Die Nymphe Kastalia ist auf der Flucht vor der sexuellen Belästigung des Gottes Apollo in eine Quelle gestürzt, die danach sprichwörtlich zur Inspirationsquelle für vor allem männliche Dichter wurde. Seit hundert Jahren ist sie als Statue im Arkadenhof der Universität Wien zur Ruhe gekommen. 2009 hat sie sich angesichts der fehlenden Repräsentation von Wissenschafterinnen im Arkadenhof das letzte Mal zu Wort gemeldet, um deutlich zu machen, dass sie genug hat. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Gleichstellung und Diversität ist es gelungen, sie für eine Interviewreihe zum Thema Mythen der Gleichstellung zu gewinnen.
Und was hat das Gesetz konkret an der Uni Wien bewirkt?
Kastalia: Abseits der offiziellen Stellen gab und gibt es immer schon Einzelkämpfer*innen für Gleichstellungsthemen. Das Gesetz hat die institutionelle Verankerung bewirkt. Die ist – für meinen Blick auf die Zeit – nur einen Wimpernschlag her. Anfang der 1990er-Jahre wurde zum Beispiel der "Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen" eingeführt, der bei Diskriminierung, Mobbing oder sexueller Belästigung aktiv wird oder Personalentscheidungen auf Chancengleichheit prüft. Das Universitätsgesetz 2002 hat auch Koordinationsstellen für Frauenförderung und Geschlechterforschung vorgeschrieben. Daraus sind zu Beginn der 2000er Jahre die Vorläufer vom "Referat Genderforschung" und der "Abteilung Gleichstellung und Diversität" entstanden. Auch die verschiedenen Referate der Österreichischen Hochschüler*innenschaft unterstützen Studierende vielseitig bei Gleichstellungsfragen. Es gibt inzwischen wirklich viele Anlaufstellen, an die sich Universitätsangehörige im Falle einer Diskriminierung wenden können. Ich kann hier gar nicht alle aufzählen. Schaut doch auf die Diversitätshomepage!
Der Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen berät und unterstützt zum einen bei Diskriminierung, Mobbing oder sexueller Belästigung. Zum anderen ist es seine Aufgabe, Personaleinstellungs- oder Habilitationsverfahren auf Chancengleichheit zu prüfen. Die Beratungsstelle Sexuelle Belästigung & Mobbing bietet psychologische Beratung für Mitarbeitende und Studierende an. Mehr über den Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen im uni:view-Artikel "Wir brauchen mehr Wissenschafterinnen".
Und warum wird jetzt von Ihnen nicht die Gleichstellung von Behinderten genannt?
Kastalia: Also, ich sage lieber behinderte Menschen oder Menschen mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung. Denn Menschen werden zwar behindert durch Barrieren, wie nicht-rollstuhlgerechte Gebäude oder Prüfungsformate, die für blinde oder hörbehinderte Studierende nicht passend sind, aber eine Behinderung ist ja keine Charaktereigenschaft. Zurück zu Ihrer Frage: Für die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung gibt es eigene wichtige Gesetze, die zum Teil schon älter als das B-GlBG sind. Daraus sind u.a. die Behindertenvertrauenspersonen für das Universitätspersonal entstanden oder das "Team Barrierefrei", das Studierende mit Behinderung oder generell bei der Umsetzung von Barrierefreiheit unterstützt.
Lassen sich Gesetze oder Gründe, aus denen ich potentiell ungleich behandelt werde, denn so voneinander trennen? Was ist, wenn ich eine Muslima mit Behinderung bin?
Kastalia: Das ist eine gute Frage. Die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw, die an der UCLA und der Columbia University lehrt, hat das am Beispiel von Gerichtsfällen von schwarzen Frauen veranschaulicht, die aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Hautfarbe am Arbeitsplatz diskriminiert worden sind. Sie sagt, aus mehreren Gründen diskriminiert zu werden, ergibt eine eigene Form von Diskriminierungserfahrung, die als solche auch anerkannt werden muss. Es kann also nicht einfach eine Diskriminierung zur anderen hinzuaddiert werden, sondern muss in ihrem Zusammenspiel gesehen werden. Für sogenannte Mehrfachdiskriminierung hat Crenshaw den Begriff "Intersektionalität" geprägt. Intersektionale Gesetze oder Förderungsmaßnahmen werden wohl noch Thema bleiben.
Kann man also zusammenfassend sagen, dass bei dem Wort "Gleichstellung" oft zuerst an jene zwischen Männer und Frauen gedacht wird, aber eigentlich geht es um mehr?
Kastalia: Ja, da stimme ich zu. Diese erste Assoziation hat damit zu tun, dass, wie gesagt, auf dem Gebiet der Frauenförderung schon sehr vieles passiert ist. Es ist auch eine Frage der Bedeutung von "Gleichstellung". Geschlechtergleichstellung beinhaltet ja häufig die Forderung nach Geschlechterparität, also zahlenmäßiger Gleichheit – sagen wir auf Führungsebene oder auf einem Podium. Bei anderen Gruppen verhält sich die Zusammensetzung der Bevölkerung aber nicht 50:50. Beispielsweise stellen behinderte, intergeschlechtliche oder schwarze Menschen in Österreich eine zahlenmäßige Minderheit dar. Da geht es dann weniger um eine ausgewogene Besetzung von Kommissionen, aber trotzdem ist es wichtig, dass ihre Perspektive eingebracht wird und sie bei Entscheidungen mitsprechen können. Gleichstellung heißt dann zum Beispiel: gleicher Zugang zu Universitätsgebäuden, das Recht auf das richtige Geschlecht im Zeugnis oder das Recht darauf, nicht rassistisch diskriminiert zu werden.
Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Gleichstellung und Diversität stellen wir vor: Marie Jahoda- Stipendium
Mit dem Marie Jahoda-Stipendienprogramm fördert die Universität Wien hochqualifizierte Wissenschafterinnen, die ihre wissenschaftliche Laufbahn aufgrund von Pflege- und/oder Betreuungsaufgaben im familiären bzw. nahen Umfeld unterbrochen oder reduziert haben. Veronika Wöhrer, Marie Jahoda-Stipendiatin und neue Professorin für Bildung und Ungleichheit an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft, berichtet im Interview über ihre Forschung und den Wiedereinstieg in die Wissenschaft.
Im Wintersemester 2020/21 werden bis zu zehn Stipendien à 30.000 Euro ausgeschrieben. Die Bewerbungsphase läuft vom 1. November bis 6. Dezember 2020. Mehr zum Marie Jahoda-Stipendium