"Wer will denn nicht handlungsfähig sein?"

İnci Dirim ist Professorin für Deutsch als Zweitsprache an der Universität Wien. Ihre Arbeitshypothese: Alle, die in Österreich leben möchten, wollen auch Deutsch lernen. Mit uni:view spricht sie über Sprachanforderungen an geflüchtete Menschen und die Verantwortung der Bildungspolitik.

uni:view: "Flüchtlinge" oder "Refugees" – die Diskussionen und Begriffe rund um Flucht und Asyl sind politisch aufgeladen. Welchen Begriff verwenden Sie, wenn es um geflüchtete Personen geht?
İnci Dirim:
Ich spreche häufig von "Flüchtenden", um zum Ausdruck zu bringen, dass die Menschen nicht angekommen sind. Bei dem gängigen Begriff Flüchtling ist das Suffix "-ling" problematisch: Neuling, Feigling, Schwächling – solche Wortkreationen haben oft einen abwertenden Beigeschmack.

uni:view: Flüchtende kommen nach Österreich – vor welchen sprachlichen Herausforderungen stehen sie?
Dirim:
Flüchtende benötigen Deutsch im Alltag, bei Behördengängen oder im Asylverfahren. Aus meiner Arbeit zur Situation von Kindern und Jugendlichen weiß ich, dass die deutsche Sprache in der Schule enorm wichtig wird. Denken wir an einen Teenager aus Syrien, der auf Arabisch unterrichtet wurde und gute Leistungen erbracht hat. An der Wiener Schule werden dann deutsche Fachtermini und bildungssprachliche Strukturen des Deutschen  vorausgesetzt – nicht nur im Deutsch-, sondern auch im Fachunterricht. Wir haben ein – bis auf wenige Ausnahmen – monolingual deutschsprachiges Bildungssystem, das es Flüchtenden schwer macht, Fuß zu fassen.

uni:view: Sprachkenntnisse sollen Voraussetzung für soziale Hilfe für Flüchtende sein, Stichwort: "Ohne Deutsch keine Wohnung", wie eine Schlagzeile in den "Salzburger Nachrichten" kürzlich lautete. Was sagen Sie als DaZ (Deutsch als Zweitsprache)-Expertin zu diesen "Maßnahmen"?
Dirim:
Deutschkurse als Voraussetzung für soziale Hilfe – bei einer solchen Forderung ist nicht nur der semantische Gehalt, sondern auch die inhaltliche Botschaft relevant: Geflüchtete Menschen müssen mit Druckmitteln in den Deutschkurs getrieben werden, da sie freiwillig kein Deutsch lernen. Dieses Misstrauen ist höchst problematisch, wenn es darum geht, eine Willkommenskultur zu etablieren. Meine Arbeitshypothese lautet: Alle, die in Österreich leben möchten, wollen auch Deutsch lernen. Wer will denn nicht handlungsfähig sein?

Als DaZ-Professorin bin ich natürlich für die Aneignung von Deutsch zuständig und möchte an der Gestaltung von offenen Deutsch-Programmen mitarbeiten. Uns muss aber klar sein: Mit dem Fokus auf den Faktor Sprache treten andere Aspekte in den Hintergrund. Zum Beispiel jener, dass viele geflüchtete Menschen traumatische Erfahrungen gemacht haben und hier angekommen oftmals emotional gar nicht in der Lage sind, eine neue Sprache zu lernen – ein "Deutschzwang" ist keine angemessene Hilfestellung.

uni:view: Dieser "Deutschzwang" betrifft ja auch nur bestimmte Personengruppen, Personen aus den sogenannten "Drittstaatenländern". Was verbirgt sich hinter dieser Unterscheidung?
Dirim:
Es wird symbolisch eine Andersartigkeit konstruiert und es findet an Hand dessen eine faktische Ausgrenzung statt. Doch wer diskutiert und entscheidet schlussendlich darüber, was "anders" ist? Es geht hier auch immer um Macht: Eine Gruppe wird als "die ÖsterreicherInnen" gedacht. Ihnen obliegt die kulturelle Deutungshoheit, normative Setzungen werden gemacht und in institutionellen Kontexten, wie zum Beispiel in der Schule oder im Rahmen des "Deutschzwangs", reproduziert.

uni:view: Wie versuchen Sie, Ihre Studierenden – oftmals zukünftige Lehrkräfte – für diese Mechanismen zu sensibilisieren?
Dirim:
Im Bereich Deutsch als Zweitsprache arbeiten wir mit der "Migrationspädagogik", die 2004 von meinem Kollegen Paul Mecheril entwickelt wurde. Es handelt sich um eine diskriminierungs- und rassismuskritische Perspektive, mit der wir die DaZ-didaktische Arbeit fundieren. Mittlerweile wurde sogar von dem "Wiener Ansatz" gesprochen. Mit dem begrifflichen Referenzpaar "Wir" vs. "Nicht-Wir" versuchen wir in Forschung und Lehre sogenannte Othering-Prozesse zu erfassen und eine Selbstreflexion anzuregen. Das heißt: Da wir – wie alle anderen auch – in gesellschaftliche Diskurse verstrickt sind, kann auch von uns selbst unbeabsichtigt Diskriminierung und Rassismus ausgehen, so unsere Grundannahme. Nur wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir entgegensteuern. Für den DaZ-Unterricht wäre zum Beispiel die Frage aktuell, wie Sprachförderung in den Unterricht integriert werden kann, ohne dass förderungsbedürftige Lernende als "sprachunkundig" oder "defizitär" markiert werden.

Integrationsminister Sebastian Kurz setzt sich übrigens auch für das migrationspädagogische Arbeiten ein, aber er versteht darunter scheinbar etwas anderes. Seine Forderungen, zum Beispiel jene nach "Wertevermittlung" im Unterricht, passen nämlich nicht mit dem Ansatz zusammen.

İnci Dirim arbeitet mit dem Ansatz der "Migrationspädagogik", einer rassismuskritischen Perspektive auf Lehre und Ausbildung. 2010 brachte Paul Mecheril mit İnci Dirim, Annita Kalpaka, Claus Melter und Maria do Mar Castro Varela das gleichnamige Lehrbuch heraus. Alle Infos zum Buch


uni:view: Apropos Sebastian Kurz: Auf ihn sind im Zuge der Debatte um Flucht und Asyl viele Augen gerichtet. Stellen Sie sich vor, Sie tauschen mit ihm für einen Tag die Rollen. Was wäre Ihre erste Amtshandlung?
Dirim:
Ich würde eine flächendeckende Fortbildungsoffensive für Lehrkräfte starten. Unterrichtende – nicht nur DeutschlehrerInnen – müssen darauf vorbereitet werden, wie sie den Unterricht gestalten, wenn in den Klassen SchülerInnen sitzen, die andere Sprachkompetenzen als die erwarteten Deutschkenntnisse mitbringen.

uni:view: Gibt es bereits konkrete Modelle, wie in der Schule mit dieser Mehrsprachigkeit umgegangen werden kann?
Dirim:
Es gibt viele verschiedene, die sich auf unterschiedliche Ebenen von Schule und Unterricht beziehen, aber es hapert noch an der Umsetzung – zumindest in Österreich. In Kanada zum Beispiel, einem klassischen Zuwanderungsland, gibt es an Schulen die sogenannten Settlement Worker. Sie sprechen mehrere Sprachen, auch die Migrationssprachen, und stehen Kindern und Eltern zur Seite, wenn sie in Kanada ankommen. Was sind Elternabende? Was wird zu Hause erledigt, was in der Schule? Was wird von den SchülerInnen erwartet? Es ist ein tolles Beispiel dafür, was gemacht werden kann, um ankommenden Menschen den Start zu vereinfachen. Allerdings muss hierfür vom Prinzip "German only" abgewichen werden; andere Sprachen müssen als Ressource anerkannt werden. In Österreich werden u.a. beim Österreichischen Sprachenzentrum sehr gute Vorschläge für den produktiven Umgang mit Deutsch als Zweitsprache und Mehrsprachigkeit in den Unterrichtsfächern entwickelt, allerdings gibt es noch keine systematische Vermittlung dieser Konzepte an Lehrkräfte.

uni:view: Mit anderen KollegInnen des Fachbereichs "Deutsch als Fremd- und Zweitsprache" schulen Sie ehrenamtliche HelferInnen, die Geflüchteten Deutschunterricht geben ...

Dirim:
Ja, die ÖH hat sich an uns gewandt, ob wir eine Workshop-Reihe für ehrenamtlich Lehrende halten könnten, in der wir eine Einführung in die Sprachvermittlung geben. Das Masterstudium an der Universität Wien dauert zwei Jahre und ist eine fundierte Ausbildung für Studierende; dieser selbst-organisierte Crash-Kurs kann natürlich kein Ersatz sein. Dennoch wollen auch wir als Lehrende einen Beitrag leisten und die engagierten HelferInnen mit unserer Expertise unterstützen. Ich schätze das Ehrenamt sehr, aber dennoch: Schlussendlich muss die Politik Möglichkeiten schaffen, sich zu professionalisieren. Die Politik ist zuständig und muss ihrer Verantwortung nachkommen. (hm)