Im Mobilitätskarussell
| 06. Juni 2018Alle paar Jahre ziehen sie weiter. Doch wie viel Zwang steckt dahinter und wie viel Freiheit bedeutet Mobilität? In der aktuellen Ausgabe von univie sprechen Alumni und WissenschafterInnen der Uni Wien über das Weggehen, Unterwegssein, Zurückkehren und Daheimsein an mehreren Orten.
Wenn Markus Muttenthaler dieser Tage im fernen Brisbane seine Umzugskisten packt, dann ist das kein Abschied für immer. Der Medizinchemiker gehört zu jenen glücklichen 13 Prozent, deren Antrag für einen der begehrten, hochdotierten Forschungspreise des Europäischen Forschungsrates erfolgreich war. Der ERC Starting Grant ermöglicht dem gebürtigen Niederösterreicher weitgehend sorgenfreie fünf Jahre, in denen er seine Forschung über die Wirksamkeit von Tiergiften für den therapeutischen Einsatz beim Menschen weiter vorantreiben kann.
Dafür verlegt Muttenthaler seinen Lebensmittelpunkt von Brisbane, wo er seit ein paar Jahren an der University of Queensland arbeitet, wieder nach Wien. "Am Institut für Biologische Chemie finde ich ideale Bedingungen für meine Forschung, die Uni Wien hat mich bei der Antragstellung sehr unterstützt", zeigt sich der Rückkehrer erfreut. Australien ganz den Rücken kehren wird der Medizinchemiker aber nicht, dafür sorgt nicht zuletzt sein Forschungsgebiet. Die Wahrscheinlichkeit, auf giftige Tiere zu treffen, ist in Australien zweifellos größer als in Österreich.
"Man braucht nur vor die Haustüre gehen oder ein paar Meilen fahren und schon findet man giftige Spinnen, Skorpione oder Tausendfüßler", schwärmt Medizinchemiker Markus Muttenthaler, der plant, weiterhin zumindest drei Mal im Jahr nach Australien zu kommen, um die benötigte "Giftbibliothek" wieder aufzufüllen – unter anderem mit dem Gift der Kegelschnecke, die etwa am Barrier Reef zu finden ist. Und auch seine DoktorandInnen in Brisbane will der Wissenschafter weiter betreuen sowie die Zusammenarbeit zwischen den Labors in Wien und Brisbane vertiefen. Mehr über sein ERC Projekt (© Anjanette Webb)
"Wissenschaft ist inhärent international"
Die ERC Grants werden höchst kompetitiv vergeben, Universitäten sehen sie daher als Qualitätsausweis für ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Dass Internationalität nicht nur ein Qualitätsmerkmal, sondern sogar ein zentrales Wesen der Wissenschaft ist, steht für Jean-Robert Tyran, seit Februar 2018 Vizerektor für Forschung und Internationales, außer Frage. "Wissenschaft ist inhärent international", ist Tyran überzeugt. Die Universität Wien beruft seit vielen Jahren international, mit einem Schwerpunkt in der DACH-Region (Deutschland, Österreich, Schweiz).
Was auf den ersten Blick vielleicht problematisch erscheine, tue der Internationalität aber keinen Abbruch, versichert Tyran. Vor allem wenn jemand lange im Ausland war, spielt die eigene Nationalität letztlich eine geringere Rolle. Schließlich hätten die KollegInnen aus der DACH-Region ebenfalls ihre Erfahrungen an Universitäten im Ausland im Gepäck. "Wenn man ein internationales Mindset, die Offenheit und den Erfahrungsschatz mitbringt und überdies noch Deutsch spricht, ist das natürlich ein Vorteil", so Tyran. Der Wirtschaftswissenschafter kam selbst aus der Schweiz über Stationen in Frankreich, England, den USA, Schweden und Dänemark an die Uni Wien.
Wohin man gehe, und wann im Lebenslauf man gehe seien strategische Entscheidungen, die gut überlegt sein wollen. Oft sei das auch davon abhängig, wo der Partner oder die Partnerin ebenfalls Arbeit findet oder wo die Kinder in die Schule gehen, so Vizerektor Jean-Robert Tyran. Dass es gerade für junge ForscherInnen im Alter zwischen 30 und 40 Jahren schwierig sein kann, kann der Vizerektor nachvollziehen. Doch wer "in der Spitzenliga" mitspielen wolle, müsse mobil sein. Ins Ausland zu gehen werde durch die zahlreichen Austauschprogramme und Universitäts-Netzwerke jedenfalls immer einfacher, ist Tyran überzeugt. International Office der Universität Wien (© Universität Wien)
Weggehen und ankommen
Auch für Markus Muttenthaler ist der Umzug von Brisbane nach Wien nicht der erste Ortswechsel. Seine wissenschaftliche Karriere führte den Chemiker neben Australien auch nach San Diego und Barcelona. Und doch ist es diesmal anders, ist doch neben seiner Frau Claudia, einer Kolumbianerin, auch der in Australien neugeborene Sohn mit dabei.
Er sei schon immer gerne gereist, sagt der 39-Jährige. "Das sind Erinnerungen, die du nie mehr vergisst." Manchmal müsse man sich freilich selbst ins kalte Wasser stoßen. "Man gibt sein bisheriges Leben praktisch auf, verkauft alles, fängt wieder von vorne an und muss sich wieder neu behaupten und etablieren."
Das sei natürlich auch anstrengend, aber für den Karriereweg enorm wichtig, man lerne extrem viel dazu, ist Muttenthaler überzeugt. Als Zwang habe er diese, in der Wissenschaft zunehmend geforderte, Mobilität aber nie erlebt. "Für mich war dieses Reisen ins Unbekannte immer schon eine Lifestyle-Entscheidung." Und er hofft, nun auch mit Kind, diesen Lebensstil noch ein bisschen aufrechtzuerhalten.
Als einen der größten Nachteile des Umherziehens nennt der Wissenschafter die mangelnde soziale Sicherheit. "Du hast dann zwar einen guten Karriereweg, aber stehst mit 40 Jahren ohne Pensionsvorsorge da", erklärt Muttenthaler.
Rund 574.700 ÖsterreicherInnen leben derzeit im Ausland. Drei Viertel dieser "Expats" haben sich in einem europäischen Land niedergelassen, großteils in Deutschland (257.000) und der Schweiz (65.000). Doch auch die USA (35.000), Großbritannien (25.000) und Australien (25.000) sind beliebte Ziele für Auslands-ÖsterreicherInnen. Schaut man sich an, wohin es AbsolventInnen der Uni Wien nach ihrem Studium verschlägt, sind neben den oben genannten "Klassikern" auch exotischere Destinationen wie Papua Neuguinea, Madagaskar oder die Faröer Inseln unter den Zielländern zu finden. Eine aktuelle Auswertung von rund 10.000 AbsolventInnen auf der Alumni Map zeigt, dass ein Viertel der eingetragenen Alumni im Ausland lebt. (© Shutterstock)
Auswandern und weiterziehen
Marius Rummel ist Absolvent der Politikwissenschaft. Er hat sich nach dem Studium an der Uni Wien für Singapur entschieden. Ihn reizten die dynamische Entwicklung und die spannenden Jobmöglichkeiten in dem südostasiatischen Stadtstaat. "Als Absolvent eine Stelle zu finden, war sehr einfach, die Arbeitslosigkeit lag damals bei nur zwei Prozent", erinnert sich der Alumnus an seine Anfänge in Asien. Neun Jahre ist Rummel in Singapur geblieben, wo er zuletzt für den deutschen Chemiekonzern BASF in der Kommunikation tätig war. Bis vor einem Jahr erneut ein Ortswechsel anstand. "Ich war von Singapur aus oft in ganz Asien unterwegs, bin aber bisher nie permanent versetzt worden. Als sich die Chance bot, für drei Jahre nach Brüssel zu gehen, habe ich gerne angenommen."
"Verlangt" die Wirtschaft nach dem mobilen Menschen? Die großen internationalen Unternehmen brauchen natürlich eine gewisse Durchmischung, meint Uni Wien Absolvent Marius Rummel. Ob Mobilität von den MitarbeiterInnen gefordert wird, kommt auf die jeweilige Firmenpolitik an, zwingend verlangt wurde sie in seinem Fall nicht. Insgesamt sei es eine Minderheit, die international arbeiten möchte und das mit etwas Glück auch könne. "In meiner Firma gibt es jedenfalls immer mehr InteressentInnen für internationale Stellen als Angebote." (© privat)
Mobil und doppelt sesshaft
Mobilität und das Leben an mehreren Standorten beschäftigen den Sozialgeografen Peter Weichhart, wissenschaftlich wie auch privat. Als ihn im Jahr 2000 der Ruf an die Universität Wien ereilte, entschied sich die Familie dafür, den Wohnsitz im Salzburger Umland zu behalten, Weichhart mietete eine Arbeitswohnung in Wien und wurde zum Wochenpendler – Montag früh mit dem Zug nach Wien, Donnerstag abends wieder retour nach Salzburg. Die persönliche Betroffenheit trug dazu bei, dass Weichhart sich auch wissenschaftlich mit residenzieller Multilokalität – dem Leben an mehreren Standorten – beschäftigte.
Multilokal zu wohnen sei in Österreich längst zu einem Massenphänomen geworden, sagt der Sozialwissenschafter Peter Weichhart. Rund 1,3 Millionen ÖsterreicherInnen verfügen über einen Zweit- oder sogar Drittwohnsitz. Von residenzieller Multilokalität spricht man, wenn jemand mindestens zwei Wohnsitze hat, diese in der Regel auch abwechselnd nutzt und zum Zentrum seiner Lebensvollzüge macht. Multilokale Lebensweisen sind keineswegs auf eine privilegierte Elite beschränkt, sondern in den unterschiedlichsten sozialen Gruppen anzutreffen: Von WanderarbeiterInnen über Studierende, Scheidungskindern bis hin zu Geflüchteten. Lesetipp: "Mobil und doppelt sesshaft. Studien zur residenziellen Multilokalität" (© Shutterstock)
Multilokal unterwegs
Zentral im Zusammenhang mit einer multilokalen Lebensweise ist der Faktor Zeit. Zeit, die man jeweils an den verschiedenen Wohnorten verbringt, und Zeit, die man benötigt, um von A nach B zu gelangen, stellt Gertrude Saxinger fest. Die Kultur- und Sozialanthropologin untersucht, wie Menschen ihr mobiles und multilokales Leben meistern. Ihre Feldforschungsorte sind unter anderem die FernpendlerInnenzüge im hohen Norden Russlands, mit denen die ArbeiterInnen tagelang in die oft Tausende Kilometer entfernten Camps der Erdöl- und Erdgasindustrie gelangen. Dieser Übergang, in der Fachliteratur auch "Transitionsraum" genannt, sei wichtig für die Menschen, die sich auf der Reise vom einen Ort, ihrem Zuhause, verabschieden und auf den anderen Ort, die Arbeit, vorbereiten können.
"Ein besonderes Phänomen dabei ist, dass die Menschen in diesem Setting besonders offen zueinander sind, sehr persönliche Dinge besprechen, miteinander essen und trinken, so entsteht ein ganz eigenes Universum." Diese Offenheit sei möglich, weil man anonym mit Fremden reise und beim Verlassen des Zuges wieder auseinandergehe, so Saxinger.
"Die Familien müssen sich oft neu erfinden, wenn ein oder manchmal auch beide PartnerInnen fernpendeln", so Gertrude Saxinger. Sowohl die Person, die weggeht, als auch jene, die zurückbleibt, müsse ihr eigenes unabhängiges Leben führen können und das sei nur mit einem großen Grundvertrauen zueinander möglich. Dass es dabei oft ein starkes gegenseitiges Zugeständnis an Freiheit gebe, findet die Sozialanthropologin überraschend progressiv. Genauso wie die Tatsache, dass bei jenen FernpendlerInnen, die dieses Lebensmodell viele Jahre praktizieren, auch diese extreme Form der Mobilität irgendwann zur Normalität wird. Lesetipp: "Unterwegs. Mobiles Leben in der Erdgas- und Erdölindustrie in Russlands Arktis"(© privat)
In eineinhalb Jahren, wenn ihre Stelle als Postdoc an der Uni Wien ausläuft, wird auch Gertrude Saxinger wieder vor der Frage stehen, ob und wohin sich das akademische Mobilitätskarussell für sie weiterdreht. "Ich glaube, diese Entscheidungen sind immer auch bestimmt von einem individuellen Set an Lebensumständen: Hast du Kinder oder pflegebedürftige Eltern? Ist der angebotene Job inhaltlich und finanziell wirklich so attraktiv? Bis du abenteuerlustig und offen genug, um leicht einen neuen bedeutungsvollen Freundeskreis aufbauen zu können? Und vor allem: Gibt es eine Option auf Rückkehr?"
Unabhängig davon, ob man plant, in eine andere Stadt zu ziehen, multilokal unterwegs zu sein oder ganz auszuwandern, kann es sinnvoll sein, sich vorab mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. (sh/red)
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Der komplette Artikel findet sich zum Nachlesen in der aktuellen Ausgabe von univie, dem Magazin des Alumniverbandes der Universität Wien. LESEN SIE AUCH: Die Redaktion von uni:view, der Online-Zeitung der Universität Wien, hat wie immer den Bereich "UNIVERSUM" im Alumni-Magazin mitgestaltet.