Heinrich Böll und die deutsche Nachkriegsliteratur

Am 21. Dezember 2017 wäre Heinrich Bölls 100. Geburtstag. uni:view sprach mit dem Germanisten Günther Stocker über einen der bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit, das Schreiben nach dem Krieg und die Hetzkampagne des Springer-Verlags.

uni:view: Heinrich Böll gilt als einer der bedeutendsten Autoren der sogenannten Trümmerliteratur. Was versteht man unter dem Begriff?
Günther Stocker:
In der Literaturgeschichte ist Trümmerliteratur die Bezeichnung für eine bestimmte Literatur der Nachkriegszeit, die sich mit den Folgen des Krieges, den zerstörten Städten und zerstörten Existenzen, den Ruinen und Traumata auseinandersetzt, gleichzeitig aber auch mit der jüngsten Vergangenheit, d.h. der Kriegserfahrung selbst.

Ursprünglich war der Begriff allerdings abwertend gemeint. Er implizierte, es sei eine Literatur, die es nicht schaffe, etwas Großes, Ahistorisches und Überzeitliches zu schaffen, sondern sich lediglich mit den Ruinen beschäftige. 1952 veröffentlichte Heinrich Böll den Essay "Bekenntnis zur Trümmerliteratur", in dem er sich mit dem Begriff auseinandersetzt und daraus eine Stärke macht. Er argumentiert, dass auch Homer als "Stammvater europäischer Epik" in seiner "Odyssee" vom Krieg, der Zerstörung und der Heimkehr erzählt. Auf diese Weise nobilitierte Böll quasi die Gattung und betonte: "Wir haben keinen Grund, uns dieser Bezeichnung zu schämen".

Günther Stocker ist seit 2011 Assoziierter Professor am Institut für Germanistik der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nachkriegsliteratur/Literatur im Kalten Krieg, Leseforschung, Literatur und Medien/Intermedialität sowie Moderne österreichische Literatur. (Foto: Universität Wien)

uni:view: Hatten die Inhalte der Trümmerliteratur auch ästhetische Auswirkungen?
Stocker:
Ja. Wolfgang Borchert beschrieb die Ästhetik der jungen Generation einmal als "scharf wie Scheiße und laut wie Gefechtslärm". Es waren überwiegend kurze, auch bruchstückhafte Texte ohne harmonische Sprache oder große organische Erzählbögen. Diese Autoren-Generation, die in den 1910er und frühen 1920er Jahren geboren worden war, wuchs in dem Literatursystem Nazi-Deutschlands auf, das durch Zensur und Bücherverbrennung geprägt war. Sie hatten, wenn der elterliche Bücherschrank es nicht hergab, nur wenig Kontakt zur internationalen Literaturentwicklung.

Heinrich Böll hat einmal geäußert, wie schwer es war, "kurz nach 1945 auch nur eine halbe Seite Prosa zu schreiben". Wie verarbeitet man Gewalt und Leid der extremen Kriegserfahrungen literarisch? Dem hat sich die Trümmerliteratur dieser jungen Generation gestellt. Mit unterschiedlichen Ergebnissen, die teilweise auch kritisch gesehen werden müssen.

uni:view: Inwiefern?
Stocker:
Nehmen wir als Beispiel Wolfgang Borcherts berühmtes Drama "Draußen vor der Tür". Das gehört zum Literaturkanon der Nachkriegsliteratur, war jahrzehntelang Schullektüre. Mittlerweile gibt es auch eine kritische Perspektive. Es geht darin um einen heimgekehrten Soldaten, der in einer Szene seinen ehemaligen Vorgesetzten aufsucht, um ihm "seine Schuld zurückzugeben". Er war Anführer eines kleinen Bataillons im Osten, von dem bei einem Angriff elf Soldaten getötet und einer verkrüppelt wurden. Es kommt in dem Text aber überhaupt nicht vor, was die deutschen Soldaten im Osten zu suchen hatten. Die Schuld am Überfall auf die Sowjetunion, der Vernichtungskrieg mit Millionen von Toten werden gar nicht erwähnt. Es ist schon paradox, dass der Gründungstext des deutschen Pazifismus diese blinden Flecken hat. Auch der Holocaust blieb in vielen damaligen Texten ein Tabu.

uni:view: Wie war es bei Heinrich Böll?
Stocker:
Böll war einer der Autoren, der die Ermordung der Jüdinnen und Juden durchaus thematisierte – wie adäquat, darüber lässt sich streiten. Bereits in seiner ersten 1949 veröffentlichten Erzählung "Der Zug war pünktlich" spielt das Thema eine Rolle, auch in späteren Texten. Er stellt hier sicher eine Ausnahme dar.

uni:view: Ist die Trümmerliteratur ein deutsches Phänomen oder gab es sie auch in Österreich?
Stocker:
Es wird immer wieder behauptet, in Österreich habe es so etwas nicht gegeben. Das stimmt aber nur zum Teil. Es gab durchaus eine Reihe von Autoren, die man dem Genre zuordnen könnte, aber die von der Literaturgeschichtsschreibung vergessen worden sind. Etwa der Wiener Autor Reinhard Federmann (1923-1976) oder der Exil-Autor Robert Neumann (1897-1975) mit seinen "Kindern von Wien". Allerdings blieb diese Literatur in Österreich marginal. Es gab – anders als in Deutschland – keine Initiative wie die Gruppe 47.

Die Gruppe 47 war ein loser, aber zunehmend wirkungsmächtiger Zusammenschluss von SchriftstellerInnen der Nachkriegszeit, der von 1947 bis 1967 existierte. Initiiert vom deutschen Schriftsteller Hans Werner Richter, trafen sich AutorInnen, später auch LiteraturkritikerInnen und LektorInnen zweimal jährlich, um Texte zu präsentieren und diskutieren. Ab 1950 wurde der "Preis der Gruppe 47" ins Leben gerufen und an noch weitgehend unbekannte AutorInnen vergeben.

uni:view: Die Gruppe 47 trug ja maßgeblich zur Bekanntheit von Heinrich Böll bei ...
Stocker:
Böll stammte aus einfachen Verhältnissen. Er begann in den 1930er Jahren mit dem Schreiben und versuchte nach dem Krieg, seine Texte irgendwo unterzubringen. Das war nicht leicht. Der Nachkriegsliteraturbetrieb war extrem reduziert. Es herrschte Papiermangel und man benötigte zum Drucken von Büchern eine Lizenz der Besatzungsmächte. Eine bessere Möglichkeit boten hier Zeitungen und Zeitschriften. Daher schrieb Böll anfangs auch viele Kurzgeschichten. Sein Erfolg begann erst, als er 1951 den Preis der Gruppe 47 verliehen bekam. Übrigens mit nur einer Stimme Vorsprung vor dem österreichisch-serbischen Autor Milo Dor (1923-2005). Über die Gruppe 47 konnte Böll dann Öffentlichkeit generieren und Kontakte knüpfen – und erhielt 1952 durch die Vermittlung von Alfred Andersch, einem weiteren Autor aus dem Umfeld der Gruppe 47, einen Verlagsvertrag bei Kiepenheuer & Witsch. Von da an ging es steil bergauf. Später überwarf er sich aber mit der Gruppe 47 und kritisierte ihren Opportunismus.

Die Gruppe gehört zu diesem Staat, sie paßt zu ihm, sie ist politisch so hilflos wie er. (Heinrich Böll)


uni:view: Was zeichnete Böll als Schriftsteller aus?
Stocker:
Böll schrieb immer engagierte, gesellschaftskritische Literatur. Er wurde in der Bundesrepublik Deutschland als moralische Instanz wahrgenommen. In seinen Büchern gibt es stets eine Verbindung von Ethik und Ästhetik, was meiner Meinung nach nicht immer zum Vorteil der Ästhetik ausfällt. Seine Figuren stammen aus dem Milieu der kleinen Leute oder sie sind gesellschaftliche Außenseiter. In seinen frühen Texten dominiert vor allem die Auseinandersetzung mit Krieg und der Nachkriegszeit, ab den 50er Jahren setzte er sich vor allem kritisch mit der Bundesrepublik auseinander.

Buchtipp: Im Oktober erschien das Buch "Diskurse des Kalten Krieges. Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur" (AutorInnen: Stefan Maurer, Doris Neumann-Rieser, Günther Stocker), in dem österreichische Agententhriller und Propagandadramen, Satiren und Zeitromane im Kontext der nationalen und internationalen politischen Diskurse analysiert werden (Open Access).
Gewinnspiel: Bereits verlost!

uni:view: 1972 erhielt Böll den Literaturnobelpreis. Änderte sich dadurch etwas?
Stocker:
Die Verleihung des Nobelpreises stellt den Höhepunkt der Kanonisierung Bölls dar. Ab Anfang der 70er Jahre hatte er allerdings immer weniger literarisch publiziert, sondern sich stärker gesellschafts- und literaturpolitisch engagiert, vor allem als Präsident des internationalen PEN-Clubs. Böll war ein politisch denkender Mensch, der sich gegen den Krieg und für soziale Gerechtigkeit aussprach. Er war ein "public intellectual", einer, der zu vielen Anlässen Stellung bezog und auch gehört wurde. Er spielte auch in der Friedensbewegung Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre eine wichtige Rolle.

uni:view: In den 1970ern Jahren rückte Böll aber auch durch eine andere Sache in den Fokus der Öffentlichkeit, die Hetzkampagne des Springer-Verlags ...
Stocker:
Ja, das ist sicherlich mit eine der dunkelsten Geschichten des deutschen Boulevard-Journalismus – und eine lange und wilde noch dazu. Böll hatte 1972 einen Essay im "Spiegel" veröffentlicht, in dem er sich zum einen mit den Motiven und Methoden der terroristischen Aktionen der RAF auseinandersetze, zum anderen aber auch die diesbezügliche Berichterstattung der Medien, vor allem der Bildzeitung, kritisierte. Sein ursprünglich ironischer Titel "Soviel Liebe auf einmal" wurde von der Spiegel-Redaktion gegen seinen Wunsch zu "Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?" abgeändert, was eine persönliche Nähe suggerierte. Es folgte ein innenpolitischer Skandal, bei dem Böll massiv, insbesondere in der Springer-Presse, als Sympathisant des Terrorismus verunglimpft wurde. Es folgten Hausdurchsuchungen, Überwachung und viele bösartige Artikel. Das hat das Bild Bölls in der Öffentlichkeit stark geprägt. Als Reaktion darauf veröffentlichte er 1974 seine berühmte Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann", in der er den Sensationsjournalismus anprangert.

uni:view: Wie ist die heutige Rezeption von Böll?
Stocker:
In der Literaturwissenschaft gibt es wenig prominente Autoren der Nachkriegszeit, die derzeit so "out" sind wie Heinrich Böll. Seine Bücher waren lange Zeit Kanon und Schullektüre und ihm haftet das Image des moralisch biederen und braven Autors an: Böll, das gute Gewissen Deutschlands. Diese ständige Referenz auf ihn hat bei vielen zu Überdruss geführt. Ich könnte mir aber vorstellen, dass in ein paar Jahren in der Literaturwissenschaft ein neues Interesse an Böll entfacht und ein anderer Blick auf ihn und seine Werke geworfen wird.

uni:view: Welche Bücher Bölls empfehlen Sie zur Lektüre?
Stocker:
Die literarisch interessantesten Texte sind für mich seine frühen Nachkriegserzählungen. Hier empfehle ich den Sammelband "Wanderer, kommst du nach Spa...", der 25 Kurzgeschichten enthält und ein Plädoyer gegen den Krieg darstellt. Meine zweite Empfehlung: 1949/50 schrieb Böll den Roman "Der Engel schwieg", der jedoch erst 1992 posthum veröffentlicht wurde. Das ist vielleicht einer der radikalsten Trümmerliteratur-Texte. In diesem beschreibt Böll sehr präzise und desillusionierend die Situation Deutschlands 1945. Und die "Katharina Blum" kann man immer noch lesen!

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (mw)