Gefährdet die Digitalisierung unsere Selbstbestimmung?
| 17. Juni 2021Uni Wien-Medienpsychologe Tobias Dienlin ist Mitautor einer aktuell von der Wissenschaftsakademie Leopoldina veröffentlichten Stellungnahme zum Thema Digitalisierung und Demokratie. Im Gastbeitrag erklärt er, wie politische Selbstbestimmung und konstruktive Medienberichterstattung zusammenhängen.
Die Digitalisierung ist in den vergangenen Jahren rasant vorangeschritten. Smartphones bestimmen den Alltag, Social Media das Privat- und Berufsleben, der digitale Impfpass fortan unsere Freizügigkeit. Gleichzeitig erstarkt aber auch der politische Radikalismus, auf sozialen Netzwerken wird viel Hass gesät, Verschwörungsmythen verbreiten sich rasant. Es drängt sich die Frage auf: Hat die Digitalisierung diese Probleme begünstigt oder gar hervorgerufen?
Eine eindeutige Antwort auf diese komplexe Frage zu finden, ist unmöglich. Es lassen sich aber aus Forschungsperspektive zumindest begründete Annahmen und erste Einschätzungen beisteuern, die der Politik als Entscheidungsgrundlage dienen können. Genau das versucht die aktuelle Stellungnahme der Leopoldina in vier großen Teilbereichen des Themas Digitalisierung und Demokratie: Plattformen als Infrastrukturen, Information und Kommunikation, Partizipation sowie Selbstbestimmung.
Ich selbst habe als Kommunikationswissenschafter und Medienpsychologe vor allem im Bereich der Selbstbestimmung mitgewirkt. Wie sieht es hier aus, bedroht die Digitalisierung unsere politische und psychologische Selbstbestimmung?
Die deutsche Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina mit Sitz in Halle (Saale, Deutschland) berät Politik und Gesellschaft unabhängig zu wichtigen Zukunftsthemen. In der aktuell veröffentlichten Stellungnahme "Digitalisierung und Demokratie" wenden sich interdisziplinäre Wissenschafter*innen, darunter Tobias Dienlin von der Universität Wien, mit konkreten Handlungsempfehlungen an Entscheidungsträger*innen.
Digitalisierung und Selbstbestimmung: "Menschen sind kein passiver Spielball von externen Kräften"
Grundlage funktionierender Demokratien sind bekanntermaßen selbstbestimmte und informierte Bürger*innen. Doch ist diese Personengruppe überhaupt noch in der Mehrheit, angesichts von Zeitungssterben, Fake-News und Informationsflut?
Ja, es stimmt: Viele Akteur*innen versuchen durchgängig, uns Bürger*innen zu beeinflussen. Sei es ökonomisch über zielgesteuerte personalisierte Werbung oder politisch, indem meinungsstarke Inhalte aus sozialen Medien durch Algorithmen höher geranked und vermehrt anzeigt werden. Auf diese Art und Weise ist es möglich, Einschätzungen, Verhalten, und politische Meinungen zu ändern.
Aber: Die Forschung legt nahe, dass diese Beeinflussung nicht in übermäßig großem Maße geschieht. Es betrifft vor allem empfängliche Personen an den Rändern unserer Gesellschaft. Menschen sind nicht passiver Spielball von externen Kräften. Im Gegenteil, wir nehmen eine aktive und bewusste Rolle dabei ein, welche Inhalte wir konsumieren und was uns wichtig ist.
Man sollte also weder von einer Ohnmacht der Bürger*innen noch von einer Übermacht der digitalen Medien ausgehen. Gleichzeitig müssen Bedrohungen gerade an den Rändern der Gesellschaft sehr ernst genommen werden. Denn obwohl soziale Medien insgesamt und im Durchschnitt voraussichtlich nicht zu stärkeren "Filter Bubbles" führen, so ist dies in den Randbereichen durchaus der Fall.
Digital- und Medienkompetenz stärken
Neben einer inhaltlichen Analyse bietet die Stellungnahme auch verschiedene konkrete Lösungsvorschläge an. Hier habe ich vor allem an den Themen Medienkompetenz sowie Qualitäts- und Datenjournalismus mitgearbeitet. Was gilt es dabei zu beachten?
Fest steht: Angesichts der Fülle der Medienangebote und Informationen wird Medienkompetenz zunehmend zur Schlüsselkompetenz. Dies umfasst übrigens auch das richtige Ausmaß an Kritik und Vertrauen in Medienschaffende. Weder Pauschalverurteilungen wie "Lügenpresse!" noch blinder Gehorsam sind geboten. Es ist wichtig, Expert*innen zu befragen – diesen aber auch zuzugestehen, bisweilen zu irren. Es sollte meiner Einschätzung nach im Journalismus mehr um die Vermittlung von Plausibilitäten und Wahrscheinlichkeiten gehen, nicht um das Verkünden absoluter Wahrheiten.
Wobei auch hier die Corona-Krise gezeigt hat, dass es manche bittere Wahrheit gibt, die man nicht wegdiskutieren kann. Dem Virus ist es egal, ob man an ihn glaubt oder nicht.
So lauten die konkreten Lösungsvorschläge aus der Stellungnahme:
- Kuratierungspraxis digitaler Informations- und Kommunikationsplattformen regulieren
- Internetangebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks stärken
- Forschung auf den Datenbeständen von Plattformen erleichtern
- Zivilität des Diskurses sicherstellen
- Demokratiefreundliches Design digitaler Technologien und Infrastrukturen fördern
- Entwicklung der Digital- und Medienkompetenz stärken
- Qualitäts- und Datenjournalismus fördern
- Digitale Beteiligung ausbauen
Qualitäts- und Datenjournalismus fördern
Nicht nur die Kommunikationswissenschafter*innen unserer Universität wissen, dass es bestimmte Faktoren gibt, nach denen Nachrichten ausgewählt und publiziert werden. Hierunter zählen zum Beispiel Aktualität und Negativität. Beispiel: Der plötzliche Einsturz eines Gebäudes hat mehr Nachrichtenwert als das kontinuierliche Aufblühen eines Wiener Stadtteils.
Die Nachrichtenfaktoren führen allerdings zu einer verzerrten Wahrnehmung der Welt. Wir sehen diese häufig negativer, als sie tatsächlich ist. Die Arbeiten von Hans Rosling oder auch Steven Pinker zeigen dies anhand vieler Beispiele: So hat weltweit die Kriminalität stark abgenommen, die Lebenserwartung zugenommen und sich der Anteil der Menschen, die in starker Armut leben, drastisch reduziert.
Diese positiven Entwicklungen sind aber vielen gar nicht bewusst. Demokratische Systeme haben ihre Schwächen, aber viele gehen davon aus, dass sie Grundlage vieler positiver Entwicklungen sind. Dies im Journalismus ebenso zu beleuchten kann Demokratien wehrhafter machen gegen politische Angriffe, die zurzeit vor allem aus dem fundamental konservativen rechten Lager zu kommen scheinen.
Konstruktiver Journalismus, basierend auf langfristigen Daten, kann hier zu einer besseren und vollständigeren Informierung der Bürger*innen führen.
Zum Autor:
Tobias Dienlin ist Tenure Track-Professor für "Interaktive Kommunikation" am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Zuletzt war er als Postdoc am Lehrstuhl für Medienpsychologie der Universität Hohenheim tätig. In seiner Forschung beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit Privatsphäre in enger Verbindung mit der eigenen Persönlichkeit und sozialen Medien, mit dem Thema soziale Medien und Wohlbefinden sowie mit Methoden und Open Science. Über seine Forschung berichtet er regelmäßig auf seinem Blog.