Fritz Peter Kirsch: "Frankreich anders sehen"
| 16. Dezember 2010Seit über 45 Jahren forscht Fritz Peter Kirsch zum Okzitanischen, einer Minderheitensprache, die nach wie vor im Süden von Frankreich gesprochen wird. Im Interview mit "dieUniversität-online" erzählt der Romanist von "Frankophonien", interkultureller Literaturwissenschaft und seiner Reise auf der "Petroleta" durch Südfrankreich.
Seit 2004 ist Fritz Peter Kirsch im Ruhestand. Aber nur theoretisch. Praktisch hält der agile 69-Jährige nach wie vor Vorlesungen an der Universität Wien und arbeitet an Publikationen, die sich den beiden Literaturen Frankreichs widmen, der französischen und der "anderen" in okzitanischer Sprache. In einem vom Zentralismus geprägten Land wie Frankreich haben es Minderheitensprachen und ihre Literaturen nicht leicht. Im Inneren werden sie nur wenig wahrgenommen, außerhalb so gut wie gar nicht. Dabei existieren in Frankreich sieben Minderheitensprachen, darunter Baskisch, Bretonisch und Okzitanisch. Auf die letztere Sprache hat sich der Romanist Fritz Peter Kirsch spezialisiert.
Redaktion: Seit über 40 Jahren beschäftigen Sie sich mit dem Okzitanischen. Wie sind Sie dazu gekommen?
Fritz Peter Kirsch: Bevor ich mich mit einem Jahresstipendium Anfang der 1960er Jahre nach Südfrankreich aufmachte, hatte ich noch nie von der okzitanischen Sprache gehört. Die Begegnung mit dem Okzitanischen vor Ort habe ich von Anfang an als ein Abenteuer empfunden, eine Begegnung mit einer Sprache und Kultur im "Underground". Ich war damals ein durchaus abenteuerlustiger junger Mann und habe mir in Toulouse ein Moped gekauft, auf Französisch "mobylette", auf okzitanisch "petroleta" (sprich: petruléto). Damit bin ich durchs Land gefahren und habe die DichterInnen, die in dieser anderen Sprache schreiben, interviewt. Aus alledem ist meine Dissertation erwachsen.
Redaktion: Wie hat sich die Begegnung mit dem Okzitanischen auf Ihre weiteren Forschungen ausgewirkt?
Kirsch: Meine Dissertation war der Beginn, seither hat mich die Sprache nicht mehr losgelassen. Aber nicht in dem Sinne, dass ich rundherum nichts anderes kenne, ganz im Gegenteil. Ursprünglich war ich einfach ein Student, der Französisch studierte - Sprache, Literatur, Kultur - und eines Tages die Minderheiten entdeckte, über die in den Lehrbüchern nichts zu finden war. So meldete sich der Gedanke, man müsse die französische Literatur anders wahrnehmen, aus dem Blickwinkel anderer von Frankreich geprägter Literaturen. Im Laufe der Zeit galt mein Interesse nicht nur dem Okzitanischen, sondern auch den vom französischen Kolonialismus geprägten Gebieten in Afrika und Nordamerika. Mehrere Reisen in die betreffenden Länder haben meinen Horizont als Literaturwissenschafter ständig erweitert. Ich erkannte, dass die Minderheitengebiete in Frankreich eigentlich auch "Frankophonien" sind, also Räume, wo das Französische ursprünglich nicht zu Hause war. Kurz gesagt, ich betreibe interkulturelle Literaturwissenschaft aus romanistischer Perspektive. Das Okzitanische hat mich somit ziemlich weit geführt…
Redaktion: …bis hin zu einem Schwerpunkt am Institut für Romanistik.
Kirsch: Ja, Kulturkonflikt, Kulturkontakt und Interkulturalität sind heute wichtige Themen am Institut. Es herrscht hier heutzutage ein Klima der Aufgeschlossenheit gegenüber Mehrheiten-Minderheiten-Konstellationen und ihren Auswirkungen auf Sprachen und Literaturen. Mehrere KollegInnen forschen zu Themen in diesem Bereich.
Redaktion: Bleiben wir beim Okzitanischen: Wie hat sich die Sprache seit dem 12. Jahrhundert entwickelt?
Kirsch: Im Hochmittelalter war das Okzitanische die Sprache der Trobadors, der höfischen Dichter, Komponisten und Sänger, eine der großen Kultursprachen. Zu Beginn der Neuzeit hat die gesamte Bevölkerung Südfrankreichs Okzitanisch gesprochen, Französisch war eine Fremdsprache. Mit der machtpolitischen Durchsetzung der Monarchie und der damit einhergehenden Hegemonie der französischen Kultur wurden die anderen Sprachen und Kulturen marginalisiert, so dass man von einer progressiven Provinzialisierung der Randgebiete sprechen kann. Im 17. und 18. Jahrhundert gingen der Adel und Teile des Bürgertums zum Französischen über. Im Laufe der Großen Revolution setzte sich der von der Monarchie ererbte Zentralismus durch und intensivierte sich noch das ganze 19. Jahrhundert hindurch. Mit der Einführung der Schulpflicht für alle Kinder - 1882 - übernahm der Volksschullehrer die Rolle eines Propagators des Französischen bis ins hinterste Bauerndorf. Eine solche Kulturpolitik weckte natürlich auch Widerstände.
Redaktion: Wie konnte dann das Okzitanische bis heute überleben?
Kirsch: Dieses Spiel von Unterdrückungsmaßnahmen und Resistenzen zieht sich durch das ganze 20. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert waren es Vereine wie der Felibrebund, die sich der Erhaltung des Okzitanischen widmeten, im 20. Jahrhundert trat das Institut d’Estudis Occitans hervor. Nach dem 2. Weltkrieg wurde Okzitanisch als Freifach in den Schulen angeboten. Danach erfolgten weitere Verbesserungen, bis Okzitanisch als Maturagegenstand erlaubt wurde. Heute kann man an Universitäten Okzitanisch studieren. All das war früher keineswegs selbstverständlich. Das Französische ist auch heute noch laut Verfassung die einzige offizielle Sprache Frankreichs, keine der Minderheitensprachen wird offiziell anerkannt.
Redaktion: Okzitanische Literatur: Lassen sich Besonderheiten und Charakteristika festmachen?
Kirsch: Ja, ich denke schon. Die okzitanischen SchriftstellerInnen sind zunächst Franzosen und Französinnen, die durch das französische Bildungssystem gegangen sind und eines Tages auf Umwegen ihre "ureigene" Sprache wieder entdeckt haben. Manche lernten auf ähnliche Weise ihre angestammte Kultur kennen, wie ich sie damals als Student aus Wien kennen lernte. Diese AutorInnen zeigen oft eine besondere Sensibilität für die "dunklen" Aspekte der Conditio humana. Die okzitanische Literatur wirkt oft pessimistisch; zugleich wird sie von einer starken, auch positiven Motivation durch das Widerfinden einer "Wahrheit" getragen, um die man sich betrogen fühlt.
Als ich 1963 in Südfrankreich war, wurden Kinder in der Schule noch bestraft, wenn sie Okzitanisch sprachen, etwa in den Pausen. So ein Vorgehen hinterlässt natürlich Verletzungen bei den Menschen. Daher ist der Weg zu einer Minderheitensprache oft auch ein Weg der Revolte. Die okzitanischen SchriftstellerInnen sind vielfach sehr kritische Geister, die immer wieder faszinierende Texte hervorbringen. Hier abschließend noch einige wichtige Namen der Literatur des 20. Jahrhunderts: Max Roqueta, Robert Lafònt, Bernat Manciet, Joan Bodon, René Nelli und Felip Gardy. (td)
Univ.-Prof.i.R. Dr. Fritz Peter Kirsch ist am Institut für Romanistik tätig.
Buchtipps:
Fritz Peter Kirsch, Interkulturelle Literaturwissenschaft. Ein romanistischer Zugang, Verlag Dr. Kovač, Hamburg, 298 Seiten
Max Roqueta, All der Sand am Meer. Die Abenteuer der Sibylle von Cumae, aus dem Okzitanischen übersetzt und mit Kommentar und Anmerkungen versehen von Fritz Peter Kirsch, Halle an der Saale, Mitteldeutscher Verlag, 2010.