Europäische Jugend: Unabhängig und gemeinsam
| 21. November 2018Was verbindet europäische Jugendliche abseits von Sozialen Medien? Kommunikationswissenschafterin Katharine Sarikakis und Soziologin Ulrike Zartler im Semesterfrage-Gespräch über grenzüberschreitendes Denken und politische Ideen "der Jugend", die so einheitlich eigentlich gar nicht existiert.
uni:view: Was verstehen Sie unter dem Begriff "Jugendkultur"?
Katharine Sarikakis: Für mein persönliches Forschungsinteresse als Publizistin ist Jugendkultur eine Frage des politischen Handelns. Junge Menschen haben ihre eigenen Definitionen, was es bedeutet sozial und politisch aktiv zu sein. So ist die gefühlte Ablehnung Europas keine Ablehnung der europäischen Idee, sondern eher eine Ablehnung der Institutionen und der Art und Weise, wie Europa gemacht wird.
Ulrike Zartler: Eine einheitliche Definition von Jugendkultur ist schwierig – dazu ist Jugend zu vielfältig und Kultur ebenfalls. Es gibt klassische Definitionen, beispielsweise die UN-Kinderrechtskonvention, die 0- bis 18-Jährige erfasst. In der Soziologie gibt es auch die Überlegung, dass Jugend stärker mit dem Verhalten als mit dem kalendarischen Alter zu tun hat. Auch mit 45 Jahren kann sich jemand jugendlich fühlen oder verhalten. Die Vorstellung, das Lebensalter in streng voneinander abgegrenzte Phasen einzuteilen, die durch bestimmte Übergangsriten getrennt werden, gilt nicht mehr.
uni:view: Stichwort: Europäische Jugend. Gibt es Rituale, die über Grenzen hinweg verbinden?
Zartler: In den westeuropäischen Ländern haben fast alle Jugendlichen ein Smartphone und Zugang zum Internet. Mit dem Handy wird selten telefoniert, selbst Nachrichten zu tippen ist schon veraltet. Diese Kommunikation hat etwas sehr Verbindendes. Studien zeigen, dass Volksschulkinder oft keine Vorstellung haben, was das Internet ist, weil sie davon ausgehen, dass es einfach da ist.
Früher war man an Orte und Zeiten gebunden, um identitätsstiftende Inhalte zu konsumieren. Der Spielraum für Autonomie ist für Jugendliche heutzutage viel größer – sie sind unabhängig von diesen Räumen und Zeiten. Das gilt auch für Sprache, denn im Internet können sie Inhalte in allen Sprachen konsumieren. In den Köpfen Jugendlicher gibt es in dieser Hinsicht keine Limitierung mehr.
Jedes Semester stellt die Uni Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Die Semesterfrage im Wintersemester 2018/19 lautet "Was eint Europa?". In Interviews und Gastbeiträgen liefern ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus dem jeweiligen Fachbereich. Zum Thema Jugendkultur in Europa hat uni:view mit Soziologin Ulrike Zartler (li.) sowie Kommunikationswissenschafterin Katharine Sarikakis (re.) gesprochen.
uni:view: Gibt es diese Generation WhatsApp oder YouTube, von der oft geschrieben wird?
Zartler: Das selbstverständliche Nutzen dieser Medien ist eine gemeinsame Basis. Generationen anhand dieser Medien zu definieren, ist allerdings viel zu eng gefasst, weil sie oft schon nach ein paar Jahren wieder out sind. Allerdings verbinden die gemeinsamen Erfahrungen mit Sozialen Medien. Ich habe mit KollegInnen untersucht, wie es sich mit der Zivilcourage im Internet verhält (zum uni:view Artikel).
Für Jugendliche ist es ein großes Thema, wie sie mit den Inhalten umgehen, die ihnen online begegnen. Da sind viele unangenehme Dinge dabei: Schockvideos, pornografische Inhalte, Cybermobbing. Ungefähr ein Drittel hat das selbst erlebt und mindestens die Hälfte hat schon einmal zugeschaut, wie es jemand anderem passiert ist. In einem Nachfolgeprojekt werden wir gemeinsam mit Jugendlichen Strategien erarbeiten, die sie im Alltag gegen hate speech einsetzen können.
Sarikakis: Bis jetzt haben wir die Jüngeren ziemlich alleine gelassen bei den Sozialen Medien. Schutz und Empowerment sollten viel stärker Teil unserer Gesellschaft sein. In Sozialen Medien ist es viel leichter, hate speech auszuüben als im alltäglichen Leben und es ist sehr wichtig zu begreifen, dass das nicht nur zufällig passiert. Hate speech wird gezielt angewandt, insbesondere bei jungen Frauen, die in der Öffentlichkeit sichtbar sind und Zustände kritisieren. Frauen, die z.B. sagen, wenn etwas sexistisch ist. Dafür müssen wir mehr Bewusstsein schaffen, denn diese Diskurse gehen tief in die Gesellschaft rein und setzen sich bei den Jugendlichen, die damit aufwachsen, fort.
uni:view: Führt die Vernetzung über soziale Medien zu einer stärkeren Politisierung?
Sarikakis: Sie führt zu einer Depolitisierung und Politisierung gleichermaßen. Einerseits zählen in Sozialen Medien nur das Ich und das Jetzt, andererseits kann die Nutzung auch zu einem stärkeren Zusammengehörigkeitsgefühl führen und Verständnis für andere wecken. Wir müssen aber bedenken, es gibt kein Online ohne Offline. Wir sollten wieder einen Schritt zurückgehen und uns bemühen, europäische Ideen auch verstärkt im Alltag, in der Schule und auf der Straße umzusetzen.
Es ist essentiell, jungen Menschen die europäische Vergangenheit immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Sie glauben durchaus an Europa, man muss nur ihre Sichtweise berücksichtigen. Die Politik muss der Jugend verstärkt zuhören, denn sie hat noch ein "blue-sky thinking", ein kreatives Träumen und Weiterdenken.
Zartler: Bei einem unserer aktuellen Projekte am Institut für Soziologie, "Wege in die Zukunft" (zum uniview-Artikel), zeigt sich allerdings, dass Jugendliche dieses "blue-sky thinking" relativ schnell verlieren. Bereits in der 4. Klasse Neue Mittelschule gibt es SchülerInnen, die schon bei einem Plan B oder C sind, weil sie erkannt haben, dass ihnen gewisse Chancen, die sie für sich erhofft haben, gar nicht offen stehen.
uni:view: Welche Rolle spielt "Europa" für diese Jugendlichen?
Zartler: Für viele sind Europa und die europäische Politik zu weit entfernt von ihrer eigenen Lebenswelt. Was wir in qualitativen Interviews eher sehen sind Konzepte von Transnationalität bei Jugendlichen, die Migrationshintergrund haben – beispielsweise, wenn sie hier zur Schule gehen, aber später einmal im Herkunftsland ihrer Eltern arbeiten möchten. Hier wird schon über Grenzen hinaus gedacht.
Sarikakis: Für mich stellt sich die Frage, ob die Jugendlichen dieses "über Grenzen hinaus Denken" als wertvolle Möglichkeit oder als Zwang sehen, weil sie sich hier nicht akzeptiert fühlen. Zugehörigkeit und Integration ist ein wichtiger Bestandteil Europas. Wir müssen Jugendliche ermutigen, sich die Frage zu stellen, welches Europa und welche Welt sie sich wünschen: Möchte ich z.B. einen Grünen Planeten? Möchte ich Grenzen und Grenzkontrollen?
uni:view: Bei allen Trennlinien, was eint Europa?
Sarikakis: Europa einen momentan zwei Dinge: die gute Seite ist die Vision einer gemeinsamen Zukunft, in der Toleranz und Akzeptanz existieren. Es gibt aber auch eine Form europäischer Einigung, die auf anderen Dingen aufbaut und die in eine weniger progressive Richtung geht. Wir müssen leben, was wir predigen. Sowohl hinsichtlich der Demokratie als auch hinsichtlich humanitärer Werte. Europas Jugend braucht ein System, ein Herz und vor allem gemeinsames Handeln. Alleine können wir nicht existieren.
uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (pp)
Ulrike Zartler ist seit 2017 assoziierte Professorin für Familiensoziologie am Institut für Soziologie der Universität Wien. Sie forscht zu unterschiedlichen Themen in den Bereichen Kindheit, Jugend und Familie. Aktuelle Forschungsprojekte beschäftigen sich beispielsweise mit der Vergesellschaftung junger Menschen, dem Umgang mit wahrgenommener Gewalt im Internet durch Jugendliche und mit kindlichen Vorstellungen über elterliche Scheidung (Projekt SMiLE).
Katharine Sarikakis ist seit Anfang 2011 Professorin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Media Governance, Europäische Medien und Kulturpolitik, Internationale Kommunikation sowie Gender und Feministische Epistemologie in der Kommunikationspolitik. Derzeit hält sie zudem den Jean Monnet Chair of European Media Governance and Integration der Europäischen Union.