Ein Plädoyer für europäische Forschungsstrukturen
| 07. Februar 2019Historiker Thomas Wallnig plädiert im Rahmen der Semesterfrage für strukturelle Lösungen für die "verfahrene Situation der national organisierten Wissenschaft". Sein Wunsch: eine transnationale und interregionale Forschung, die überschriebene historische Zusammenhänge wieder sichtbar macht.
Vor weniger als vier Wochen erklärte unsere Reiseführerin auf einer zum französischen Staatsgebiet gehörigen Karibikinsel: Die Urbevölkerung hier pflegte einst einen respektvollen Umgang mit der Natur; dann kamen die Europäer, die Menschen und Umwelt ausbeuteten; doch heute kehren wir zurück zu Nachhaltigkeit und Verantwortungsbewusstsein. Wieso, so denke ich unwillkürlich, spricht sie nicht von Franzosen, vielleicht noch Spaniern, Portugiesen und Engländern, sondern von Europäern?
Die "andere" europäische Vormoderne
Auf dieser französischen Antilleninsel ist das "Europa" des 17. Jahrhunderts unbequem aktuell und präsenter als diesseits des Atlantik. Europas Wissensdiskurse behandeln die eigene Vormoderne entweder als genealogisches Ideenreservoir für "Werte" oder als das nahezu einzige noch verbliebene "Andere", von dem man sich abgrenzen, an dem man die eigene Überlegenheit noch politisch korrekt konstruieren kann. Viel von dieser Haltung lebt von der Verkennung des Zusammenhangs von Ideen- und Religionsgeschichte: Der exotische Grusel der Inquisition entfaltet seine dramaturgische Wirkung erst im Zusammenspiel mit der Geschichte der Menschenrechte.
Was eint Europa? Die Beteiligung an beidem; der beiden Phänomenen zu Grunde liegende Konflikt um die metaphysische Rechtfertigung von Machtpolitik; schließlich der Umstand, diese vormodernen Konflikte in die Welt exportiert und damit umgedeutet und anderen aufgezwungen zu haben.
Überschriebene vormoderne Bruchlinien
Wie wäre es, wenn diese Konflikte auch wieder von dort aus gedacht würden, von wo viele von ihnen ihren Ausgang genommen haben? Das England der Puritaner, denen die Toleranz in Neu-England der sichere Hafen vor gleich mehreren christlichen Kirchen war? Das Kastilien der imperialen Expansion, in dem die Andersgläubigen gerade eben noch die vertriebenen Muslime und Juden gewesen waren? In das von den Habsburgern re-katholisierte Siebenbürgen, in dem konfessionelle Staatlichkeit an die Stelle späthumanistischer Plurikonfessionalität trat? Die Geschichte der Antilleninsel ist fraglos eine französische (und englische), aber nicht zuletzt auch eine von MigrantInnen aus der Bretagne. Welches Europa haben sie zurückgelassen?
Ein Europa der transnationalen Forschungsförderung
Wie wäre es nun, wenn es Forschungsformate gäbe, die es ermöglichten, Regionalität und Lokalität global zu denken und dabei auf das nationalstaatliche Paradigma, nicht aber auf den rechtsstaatlichen Rahmen zu verzichten? Die uns bekannten Nationalstaaten sind nicht die wirklichen Protagonisten der oben geschilderten Geschichten. Sie haben diese Geschichten vielmehr nach 1800 für ihre eigenen Fortschrittserzählungen umgeschrieben und adaptiert. Diese Erzählungen, geronnen in unseren Denkmälern und Hymnen, erscheinen heute wie alte Filme: Man möchte sie nicht mehr sehen, kann aber nicht wegschauen.
Wie wäre es, wenn es transnationale und interregionale Forschung gäbe, in der sich dieses vormoderne Europa in seiner ganzen Komplexität, in seiner globalen Verflechtung abbilden ließe? Es wäre zeitgemäß und relevant. Dort, wo solche Forschung stattfindet, ist sie transformativ.
Regional, national, global: COST und creolité
Der Bereich, für den ich sprechen kann, ist jener der wissenschaftlichen Kooperationsförderung der EU, wie er sich etwa in so genannten COST-Actions (aus EU-Geldern geförderte europäische Forschungsnetzwerke) ausdrückt. Wo mehr als 200 Menschen aus 35 Ländern während mehrerer Jahre gemeinsam an einer dezentralen europäischen Ideengeschichte arbeiten, wachsen ursprüngliche Zusammenhänge wieder zusammen, und zwar aus mehreren gleichberechtigten Perspektiven. Jedes der angedeuteten Phänomene – Humanismus, Imperialität, Toleranz – ist gleichzeitig regional, national und global.
Mehr als 200 internationale WissenschafterInnen, BibliothekarInnen und TechnikerInnen haben sich in der kürzlich abgeschlossenen COST-Action "Reassembling the Republic of Letters" unter der Co-Leitung von Thomas Wallnig mit der Geschichte der Europäischen Gelehrtenrepublik beschäftigt. Die Ergebnisse werden im Frühjahr 2019 in veröffentlicht (Hrg.: H. Hotson/T. Wallnig, Göttingen University Press).
Comenius und Erasmus
Zwei Beispiele dieser gemeinsamen, digital ausgerichteten Arbeit im Rahmen der Cost-Action "Reassembling the Republic of Letters" mögen illustrieren, was hiermit gemeint ist. Die Exilwege des verfolgten Böhmischen Brüderbischofs Jan Amos Comenius führten durch ganz Nordeuropa und zeigen lange vor den Katastrophen des 20. Jahrhunderts den Zusammenhang von intellektueller Dissidenz und Verfolgung.
Die Korrespondenz des Erasmus von Rotterdam dokumentiert eine gelehrte Geographie Europas, die im engsten Wortsinn quer zu jedem nationalen Paradigma liegt: von Oberitalien über Basel und Oberdeutschland bis in die Niederlande und nach England. Dass der Rest der Karte keineswegs leer zu denken ist, bezeugen die Protagonisten des dalmatinischen, ungarischen und polnischen (Spät-)Humanismus. (Den Briefwechseln von Erasmus und Comenius waren Visualisierungs-Experimente im Rahmen der so genannten "Design Sprints" mit dem Politecnico di Milano gewidmet.)
Wir alle kennen die Namen – wenn auch meist nicht viel mehr. Comenius und Erasmus leihen die ihren zwei prominenten europäischen Bildungsprogrammen und sie figurieren sogar als Testimonials des jüngsten Europa-Manifests von dreißig renommierten AutorInnen (siehe Bericht im "The Guardian"). Wenn wir sie Europa auf die Fahnen heften, sollten wir die Konflikte nicht vergessen, denen ihr intellektuelles Profil entstammt, und ebensowenig die multiplen Identitäten, aus denen diese Profile erwuchsen.
Ohne europäische Ideengeschichte gibt es auch keine europäische Idee.
Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Die Semesterfrage im Wintersemester 2018/19 lautet "Was eint Europa?".
Offenheit und Austausch, Konsortien und Infrastrukturen
Wo sich 200 Forschende zusammenfinden, entsteht ein Prozess von Offenheit und Austausch, der noch weit wichtiger ist als das Ergebnis. Auf dem Boden solcher Konsortien entstehen die großen europäischen Infrastrukturprojekte, mehr noch: die Europäische Kommission und das Europäische Parlament nutzt diese (unsere) Erfahrungen im Rahmen der COST-Action zur Adjustierung der entsprechenden Förderziele. Wenn wir wollen, dass transnationales Denken in einigen Jahrzehnten auch die Schulen erreicht, müssen wir jetzt für die entsprechende Forschung sorgen. Das heißt: Wir müssen sie finanzieren, bevor das disponible Geschichtsbewusstsein in tausendjährige nationale Erfolgsgeschichten investiert wird. (red)
Thomas Wallnig ist Frühneuzeit-Historiker an der Universität Wien und fungierte von 2014-18 als Vice Chair der COST-Action "Reassembling the Republic of Letters". In seiner Forschung beschäftigt sich Wallnig insbesondere mit der Ideengeschichte Zentraleuropas in der Vormoderne. Sein Buch "Critical Monks. The German Benedictines 1680-1740" ist im Januar 2019 bei Brill erschienen und befasst sich mit der intellektuellen Genealogie der katholischen Aufklärung.