Der Arbeitsmarkt im Wandel

Welche Veränderungen bestimmen die Entwicklung des Arbeitsmarktes in Europa und was bedeutet das für Menschen und Gesellschaft? Im Rahmen der aktuellen Semesterfrage sprach uni:view mit dem Psychologen Christian Korunka und dem Soziologen Roland Verwiebe.

uni:view: Herr Korunka, Herr Verwiebe, Sie beide beschäftigen sich in Ihrer Forschung mit unterschiedlichen Aspekten des Arbeitsmarktes. Können Sie kurz erläutern, was sie dabei besonders interessiert?
Christian Korunka: Mein Fach vertritt einen psychologischen Zugang zum Thema Arbeit. Wir interessieren uns vor allem für die individuellen Bedürfnisse der Menschen in der Arbeitswelt und untersuchen, wie sich Veränderungen auf diese Bedürfnisse und insbesondere auf die Qualität des Arbeitslebens auswirken. Der Arbeitsmarkt ist aus Sicht der Psychologie ein ungemein interessanter Forschungsbereich, weil er sich explizit mit verschiedenen Menschenbildern und Sichtweisen beschäftigt, die – genauso wie die Arbeit selbst – einem ständigen Wandel unterliegen.

Roland Verwiebe:
Auch die Soziologie interessiert sich sehr für den Wandel der Arbeitswelt. Uns geht es aber oft um eine gesamtgesellschaftliche Perspektive auf die Zusammenhänge zwischen Globalisierung, Europäisierung und Flexibilisierung und deren Effekte auf die heimische Wirtschaft. Wir untersuchen die Rahmenbedingungen der Arbeit, führen bestimmte Ländervergleiche durch und können dann entsprechende statistische Aussagen über spezifische Entwicklungen treffen.

uni:view: Um auf unsere aktuelle Semesterfrage Bezug zu nehmen: Inwiefern ist der Arbeitsmarkt etwas, das Europa eint?
Verwiebe: Einer theoretischen Idee der Soziologie zufolge ist die Sphäre der Erwerbsarbeit die zentrale Vergesellschaftungsinstitution schlechthin. Dabei geht es nicht nur darum, dass man durch Arbeit seinen Lebensunterhalt absichern und seine Miete bezahlen kann, sondern auch um einen anderen wichtigen Aspekt: durch Arbeit entstehen bestimmte soziale Netzwerke, die Menschen in ihren Einstellungen und Wertehaltungen verändern – Arbeit ist identitätsstiftend. Dieser zentrale Charakter der Arbeit ist etwas, das für alle europäischen Gesellschaften gleichermaßen zutrifft.
Was Europa auch in puncto Arbeitsmarkt eint, ist ein gemeinsames Verständnis dessen, wie der Arbeitsmarkt organisiert sein sollte. Es ist als historisches Erbe der ArbeiterInnenbewegung in Europa zu sehen, dass eine Regulierung der Arbeitswelt mehrheitlich als sinnvoll erachtet wird und dass Konflikte zwischen Arbeit und Kapital friedlich ausgefochten werden sollten.

Korunka: Ein verbindendes Element in Bezug auf den Arbeitsmarkt in Europa ist sicher die Bedeutsamkeit der Arbeit insgesamt. Nach gängigen Motivationstheorien hat der Mensch drei zentrale Grundbedürfnisse: das Bedürfnis nach Kompetenz, nach Autonomie und nach sozialer Einbindung. Alle drei können in hohem Ausmaß über Arbeit erfüllt, aber auch bedroht werden. Durch Arbeit bekommt man die Möglichkeit, seine Kompetenzen weiter zu entwickeln und umzusetzen. Wir benötigen aber auch Autonomie, und die steht immer in einem Spannungsfeld zur sozialen Einbindung. Menschen brauchen einfach den sozialen Kontakt, weil sie sich zu einem großen Teil über andere definieren. Der Austausch in der Arbeitswelt, die erweiterten Chancen und das Lernen voneinander sind wesentliche Grundlagen des Zusammenhalts auf europäischer Ebene.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Die Semesterfrage im Wintersemester 2018/19 lautet "Was eint Europa?". In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zum Thema Arbeit und Beschäftigung in Europa hat uni:view mit dem Psychologen Christian Korunka (li.) sowie dem Soziologen Roland Verwiebe (re.) gesprochen.

uni:view: Was sind aus Ihrer Sicht die gravierendsten Veränderungen in der Arbeitswelt?
Korunka: Generelle Trends sind etwa die Flexibilisierung der Arbeitszeiten, die Digitalisierung und Globalisierung mit all ihren Konsequenzen. Wenn man sich die jüngsten Zahlen von Eurofunds und ILO (International Labor Organization) anschaut, stellt man aber auch fest, dass von der zunehmenden Flexibilisierung lediglich maximal rund 20 Prozent der Arbeitsplätze in Europa betroffen sind. Ich würde sagen, dass, obwohl es gleichzeitig viel Veränderung gibt, auch insgesamt gesehen viele Jobs noch immer relativ unverändert ablaufen, wenn man die Arbeitsinhalte in Betracht zieht.

Verwiebe: Es gibt einige klare Trends, zum Beispiel den zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen. Immer mehr Menschen arbeiten nicht mehr nach dem klassischen Muster von 9 bis 5 in einer 40-Stunden-Woche mit einem unbefristeten Vertrag. Österreich ist in dieser Hinsicht im Vergleich zu anderen Ländern noch immer relativ gut aufgestellt. Es ist zwar auch hier in den letzten zehn bis 20 Jahren ein Anstieg der Solo-Selbständigkeit und befristeten Verträgen zu verzeichnen, dieser liegt aber weit unter dem Niveau von vergleichbaren Werten in Großbritannien oder Deutschland. Eine starke Zunahme von Männern und Frauen, die in Teilzeitverhältnissen tätig sind, ist aber auch in Österreich deutlich zu spüren. Auffällig ist, dass hier nahezu 50 Prozent der Frauen davon betroffen sind – ein Spitzenwert in Europa.

Korunka: Ich würde bei diesen Trends noch die Individualisierung ergänzen. Das ist gewissermaßen die Antwort auf die strukturelle Flexibilisierung in der Arbeitswelt. Auch bei der aktuellen Diskussion um den zwölf-Stunden-Tag wird immer wieder damit argumentiert, dass bestimmte Menschen dadurch bessere Möglichkeiten haben, sich ihre Arbeit einzuteilen. Dem steht aber gleichzeitig gegenüber, dass andere darunter leiden. Es gibt also eine gewisse Polarisierung mit GewinnerInnen und VerliererInnen bei diesen Veränderungen.

uni:view: Was passiert mit den VerliererInnen und welche Folgen hat das für die Gesellschaft?
Verwiebe: Ich denke, dass die Folgen dieser Entwicklungen für viele Menschen prekär sind. Das spiegelt sich auch in der Abwanderung von WählerInnen hin zu rechten oder linken Protestparteien. Diese werden vielfach von der ArbeiterInnenklasse gewählt. Man muss das in der historischen europäischen Dimension sehen: Die ArbeiterInnen haben in Europa die Sozialdemokratischen Parteien gewählt, weil sie ihnen ein besseres Leben versprochen haben. Dass diese Koalition heute zerbrochen ist, hat viel damit zu tun, dass viele gut bezahlte Jobs in der Industrie weggefallen sind. Wer dann in der Gastronomie unterkommt, muss plötzlich mit einem Stundenlohn von zehn Euro über die Runden kommen. Diese Entwicklung hat Folgen für die Gesellschaft, für die politische Teilhabe und die Demokratie insgesamt, die in eine fundamentale Krise gerät.

Korunka: In diesem Zusammenhang sollte man auch die Arbeitslosigkeit erwähnen, die nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich gravierende Konsequenzen haben kann. Die Wende hin zu den RechtspopulistInnen, die wir gegenwärtig erleben, kann man mit vielen Veränderungen und Bedrohungen erklären. Die Angst vor Arbeitslosigkeit ist hier sicherlich ein wesentlicher Faktor.

uni:view: Zum Abschluss noch ein kurzer Blick in die Zukunft: Wie werden wir in 20 Jahren arbeiten?
Korunka: Ich denke, dass uns die Grundtrends der Digitalisierung weiter beschäftigen werden. Auch das Thema Roboter und Künstliche Intelligenz wird in einigen Bereichen gravierende Veränderungen für die Arbeitswelt mit sich bringen. An den psychologischen Grundbedürfnissen in Bezug auf Arbeit wird sich aber auch dadurch nichts ändern. Zusammengefasst: Wir werden zwar noch einschneidende Veränderungen erleben, der Wert und die Bedeutsamkeit von Arbeit bleiben aber erhalten.

Verwiebe: Ich glaube nicht an pessimistische Zukunftsszenarien, in denen viele Arbeitsplätze durch Roboter verlorengehen. In einigen Branchen wie etwa dem Dienstleistungssektor wird es durch die voranschreitende Technologisierung sicher zu fundamentalen Neuerungen kommen. So könnte man in einigen Jahren vielleicht einen Friseursalon besuchen, wo einem ein Roboter zu jeder beliebigen Uhrzeit einen neuen Haarschnitt verpasst. Diese Roboter muss aber auch irgendein Unternehmen entwickeln und bauen, was wiederum der Industrie zugutekommt. Insofern glaube ich, dass Jobs, die an einer Stelle verloren gehen, an einer anderen wieder geschaffen werden könnten.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (ms)

Christian Korunka ist seit 2007 Professor am Institut für Angewandte Psychologie: Arbeit, Bildung, Wirtschaft im Bereich Arbeits- und Organisationspsychologie. Er forscht zur Qualität des Arbeitslebens im Wandel der Zeit und zu den Auswirkungen von Veränderungsprozessen auf den Arbeitsalltag bzw. das Arbeitsleben und leitet den Universitätslehrgang Psychotherapeutisches Propädeutikum.

Roland Verwiebe ist seit Anfang 2009 Professor für Sozialstrukturforschung und quantitative Methoden am Institut für Soziologie. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Themenbereichen Ungleichheit, Arbeitsmarkt, Migration, Einstellungs- und Wertewandel.