"Demokratische Werte" für Zugewanderte

leeres Klassenzimmer

In ihrem Projekt "Integration durch Wertevermittlung" haben sich Sabine Grenz von der Uni Wien und ihr Team mit den in Österreich verpflichtenden Werte- und Orientierungskurse für Asylberechtigte befasst und diskutieren im Gastbeitrag die Frage, ob man Werte als Faktenwissen überhaupt vermitteln kann.

Die Frage Worauf legen wir (noch) Wert? – aktuell von der Uni Wien als Semesterfrage gestellt – ist in den vergangenen Jahren im Feld der Integrationspolitik auf sehr spezielle Weise aufgeworfen worden. Seit dem Jahr 2017 sind Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte in Österreich dazu verpflichtet, an einem "Werte- und Orientierungskurs" teilzunehmen.

Dieser achtstündige Kurs, konzipiert und durchgeführt vom Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF), verfolgt das Ziel, "den Teilnehmern die demokratische Ordnung und die sich daraus ableitbaren Grundprinzipien (grundlegende Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung) sowie die Regeln eines friedlichen Zusammenlebens zu vermitteln" (IntG. §5 (3)).

Integration: Europaweiter Trend zu Anpassungsforderungen

Dass die österreichische Integrationspolitik in den letzten Jahren immer deutlicher Anpassungsforderungen ins Zentrum gerückt hat, wird auch von Politikwissenschafter*innen seit längerem beobachtet. Hier zeigt sich eine europaweite Entwicklung, die sich seit Beginn der 2000er Jahre vom Ringen um multikulturalistische Politikformen wegbewegt und zunehmend von Anpassungs- und Leistungsforderungen bestimmt ist. Während Bemühungen um Teilhabe zurückgenommen werden, werden die Hürden für die Einbürgerung erhöht. Die Chiffre dafür ist die "Stärkung gemeinsamer Werte".

"Gemeinsame Werte" sind allerdings vieldeutig: Sie können sowohl alltägliche Routinen und Vorlieben als auch demokratische Grundhaltungen beinhalten. In Österreich wurde beispielsweise 2013 die "Rot-Weiß-Rot-Fibel" präsentiert, eine Wertebroschüre, in der "1 Grundlage, 6 Prinzipien und 18 Werte" formuliert wurden, auf denen das Leben in Österreich beruhe. Sie werden bei Staatsbürgerschaftstests abgefragt und verschieben den Schwerpunkt damit vom historischen Wissen zum "Werte-Wissen".

Demokratische oder österreichische Werte?

Der in die Rot-Weiß-Rot-Fibel integrierte Fokus auf alltagskulturelle Regeln und Umgangsformen liest sich in der Lernunterlage zum Wertekurs so: "In Österreich gibt es bestimmte Gewohnheiten, die die meisten Menschen einhalten. Wenn man diese Gewohnheiten erkennt und lernt, können Missverständnisse nicht so leicht passieren" (ÖIF Lernunterlage "Mein Leben in Österreich – Chancen und Regeln, S. 68).

In den Kursen werden also "demokratische Werte" mit "kulturellen Regeln und Gewohnheiten" zu quasi "österreichischen Werten" verwoben. Doch worin bestehen diese eigentlich? Sind nicht die je spezifischen Werthaltungen der einzelnen Dozent*innen gerade Ausdruck jener Wertepluralität, die demokratische Gesellschaften auszeichnet und die ansonsten auch in Österreich selbstverständlich ist?

Interviews mit Teilnehmer*innen der Wertekurse

Das Forschungsprojekt "Integration durch Wertevermittlung?" wurde von 2019 bis 2021 unter der Leitung von Sabine Grenz am Institut für Bildungswissenschaft durchgeführt und vom ÖNB-Fonds gefördert. Im empirischen Teil der Studie wurden Rückmeldungen zu den Wertekursen und Unterstützungsbedarfe aus der Sicht von Geflüchteten erhoben. Im theoretischen Teil wurde der "Werte-Fokus" in der Integrationspolitik im Kontext gesellschaftspolitischer Entwicklungen analysiert.

Die Themen des Wertekurses – Bildung, Arbeitswelt, Gesundheit, Wohnen, Geschlechtergleichstellung, Zusammenleben u.a. – wurden von unseren Interviewpartner*innen als grundsätzlich interessant bezeichnet. Irritation kam in Bezug auf zweierlei zum Ausdruck. Die wahrgenommene Forderung, sich an "kulturelle Gepflogenheiten" in Österreich anzupassen und die Darstellung der verwirklichten Chancengleichheit. Das zeigen beispielhaft die folgenden Stimmen:

Ja, aber, Integration bedeutet nicht – ich muss mein Culture vergessen oder so. Und auch ich muss nicht [...] Copy, Paste mein Gehirn, nein." (Amir, 23, Syrien)

In Gesetze steht alles, aber das stimmt überhaupt nichts. Für Flüchtlinge gibt es andere – andere Gesetze und andere Regeln." (Karim, 22, Afghanistan)


Während das "Auffassen der Kultur", wie es ein Teilnehmer ausdrückt, von vielen Interviewpartner*innen als prozesshaft beschrieben wurde, liegen die wichtigen Faktoren für Integration und Demokratie aus ihrer Perspektive anderswo. In der Möglichkeit der Existenzsicherung, dem institutionellen Zugang und den immer wieder betonten Kontakten und Freundschaften mit Österreicher*innen.

Jedes Semester stellt die Universität Wien eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Lesen Sie hier alle Beiträge zur Semesterfrage im Wintersemester 2021/22: "Worauf legen wir noch Wert?" 

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Wertevermittlung nur praktisch möglich

"Demokratische Werte" und Pluralismus eignen sich weder dafür, festgeschrieben noch als Faktenwissen vermittelt zu werden – auch wenn dies zukünftig in 16 anstatt acht Stunden Wertekurs geschehen soll. Demokratie ist eine Konfliktordnung – und zwar um die Frage, was Freiheit und Gleichheit bedeuten, welchen Wert wir unterschiedlichen Inhalten beimessen und wie sie umgesetzt werden. Daher werden demokratische Werte, die in der Wertschätzung demokratischer Verfahren und Institutionen zum Ausdruck kommen, durch die Teilnahme an demokratischen Praktiken und Strukturen vermittelt. Das heißt wir "erlernen" sie vor allem dadurch, dass wir sie in alltäglichen Praktiken und institutionellen Kontexten erfahren.

Um demokratische Werte zu stärken, ist es daher entscheidend, Möglichkeiten für politische Teilhabe und die Einübung des politischen Konflikts – von Widerspruch bis Zuspruch – zu schaffen. Beispielsweise im Rahmen einer profunden, politischen Bildung für alle hier lebenden Menschen in Schule und Erwachsenenbildung.

Über die Autor*innen:

Ass.-Prof. Dr. Sabine Grenz ist Professorin für Gender Studies an der Universität Wien und Privatdozentin für Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Mitglied im internationalen, interdisziplinären Netzwerk "Transforming Values. Gender, secularities and religiosities across the globe" und forscht u.a. zur gesellschaftlichen Wertetransformation im Rahmen von Postsäkularität und zu feministischer (intersektionaler) Methodologie.

Dr. Barbara Grubner ist Kultur- und Sozialanthropologin. Sie forscht und lehrt zu feministischer Theorie, sozialwissenschaftlicher Kulturtheorie und psychoanalytischer Gesellschafts- und Subjekttheorie.

Dr. Monika Lengauer ist Alumna der Kultur- und Sozialanthropologin der Uni Wien und seit 2017 selbstständig in der Evaluation, Projekt- und Qualitätsentwicklung für NPOs mit Schwerpunkt auf Bildungs- sowie Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen tätig.