Das Anthropozän fordert die Fachdisziplinen heraus

Anfang April fand in Wien die größte erdwissenschaftliche Tagung Europas statt. Dabei stand das Anthropozän – das Menschzeitalter – im Mittelpunkt einer interdisziplinären Session mit Beteiligung von WissenschafterInnen der Uni Wien. Michael Wagreich hat die Ergebnisse für uni:view zusammengefasst.

Der Begriff "Anthropozän" steht symbolhaft für den durch den Menschen verursachten globalen Wandel mit all seinen unterschiedlichen Problemfeldern wie Klimaerwärmung, Meeresspiegelanstieg und Umweltverschmutzung sowie den damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen. Der Mensch verändert die Erde und hinterlässt eindeutige und vielfache Spuren auf dem Planeten.

Auf der Jahrestagung der European Geosciences Union (EGU), der größten erdwissenschaftlichen Tagung Europas mit 16.273 TeilnehmerInnen, wurde das neue Menschzeitalter u.a. in der Session "The Anthropocene – an interdisciplinary approach" mit über 25 Beiträgen diskutiert – darunter acht Vorträge von WissenschafterInnen der Uni Wien.

Anthropozän im Blickwinkel von Kunst, Architektur und Wissenschaft

Eröffnet wurde die interdisziplinäre Session durch den Systemökologen Michael Hauhs von der Universität Bayreuth: Es sei notwendig, dass Geistes- und NaturwissenschafterInnen eine gemeinsame "Sprache" zur Bearbeitung des "brennenden Themas Anthropozän" finden – eine solche könne in der gemeinsamen Nutzung von Computerprogrammen und abstrakten digitalen Modellen liegen.

Wie breit und interdisziplinär der Begriff Anthropozän ist, zeigten gleich die folgenden beiden Präsentationen: die erste eine künstlerische Auseinandersetzung zweier isländischer Künstler mit dem Versuch des Menschen, seine Umwelt zu vermessen und zu kartieren, die zweite ein Beitrag einer Architektin über "Architektur am Berg" und deren historische Entwicklung.

Menschen verändern ihre Umwelt so stark, dass WissenschafterInnen darüber diskutieren, ob bereits von einer neuen Zeitrechnung gesprochen werden kann. Im Wissenschafts-Comic der Reihe "Wissensblick" erklären Archäologin Kira Lappé und Geologe Michael Wagreich, was es damit auf sich hat. (© Nana Swiczinsky)


Die nächsten Vorträge kamen wieder aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive und reichten von den Änderungen der Landnutzung und der Sedimentablagerungen in Europa während der letzten 100 Jahre über Isotopendatierungen bis hin zum "anthropozänen Fingerabdruck" in Seesedimenten und Baumringen in China.

Ein neuer "Marker" für das Menschzeitalter


Besonders interessant war die Präsentation eines neuen Markers für das Anthropozän: mikroskopisch kleine Glaskügelchen, die im Rahmen von Fahrbahnmarkierungen als Lichtreflektoren eingesetzt werden. Durch den Abrieb des Autoverkehrs werden diese den Markierungsfarben zugesetzten Glaspartikel mittlerweile in straßennahen Böden ebenso häufig wie Mikroplastik gefunden.

Auf der Suche nach dem "Golden Spike"

Die Spannweite der Posterbeiträge war noch weiter gefasst, mit Beiträgen von Wien – u.a. Dissertationsprojekte der Fakultät für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie der Uni Wien –, Berlin – das künstlerische Anthropozän-Großprojekt des Haus der Kulturen – bis China.

Die Anthropozän-Arbeitsgruppe der Internationalen Stratigraphischen Kommission präsentierte Sedimentabfolgen, die möglicherweise für den "Golden Spike" – also einem Referenzpunkt in einem weltweit gültigen Schichtprofil (z.B. in der geologischen Schichtabfolge), der den Beginn der neuen Zeiteinheit definieren soll – herangezogen werden können. Solche weltweit gültigen Profile zu untersuchen, wird in den nächsten Jahren die Hauptaufgabe der Anthropozän-Arbeitsgruppe sein, deren Sekretär Colin Waters ebenfalls einen Beitrag zur EGU beisteuerte.

WissenschafterInnen aus verschiedenen Disziplinen sind auf der Suche nach dem "Golden Spike" in jährlich anwachsenden Schichtabfolgen, der den Beginn des Anthropozäns anzeigt. In Frage kommen beispielsweise Baumringe oder Korallenstöcke oder auch Seesedimente, wobei speziell nach den Isotopensignalen der Atombombentests der 1950er und 1960er Jahre gesucht wird. (© Pixnio.com)

Anthropozän: Nicht nur ein Modewort

Der globale Wandel und das Anthropozän wurden auch in einer Reihe weiterer geowissenschaftlicher Sessions auf der diesjährigen EGU-Jahrestagung behandelt – von Geoarchäologie bis hin zur Cryosphäre. Gerade die abschmelzenden Gletscher bringen Umweltgefährdungen, etwa eine Remobilisierung der Schadstoffe durch den Tschernobyl-Reaktorunfall.

Insgesamt ist als Fazit festzuhalten: Das Anthropozän ist nicht nur ein Modewort und ein medienwirksames Symbol für den menschengemachten Wandel des Erdsystems, sondern auch ein Objekt intensiver Forschung in vielen Fachbereichen, von der künstlerischen Auseinandersetzung über Literaturstudien bis hin zur geowissenschaftlichen Datensammlung. Wichtig ist der Dialog der Wissenschaftsdisziplinen: Eine Fachsichtweise allein ist zu eingeschränkt, um den uns alle und unseren gesamten Planeten betreffenden globalen Wandel zu erfassen.

Michael Wagreich ist Professor am Department für Geodynamik und Sedimentologie der Universität Wien und Mitglied der Anthropozän-Arbeitsgruppe der Internationalen Kommission für Stratigraphie (ICS). Aktuell leitet er das transdisziplinäre Projekt "The Anthropocene Surge", das vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds WWTF gefördert wird.