Chemie-Nobelpreis 2017: "Neue Impulse für die Lebenswissenschaften"
| 05. Oktober 2017Der Chemie-Nobelpreis 2017 geht an Joachim Frank, Jacques Dubochet und Richard Henderson für ihre Beiträge zur Entwicklung der Kryo-Elektronenmikroskopie. uni:view fragt den Experten für Elektronenmikroskopie Siegfried Reipert von der Universität Wien nach der Bedeutung dieser Entwicklung in der Mikroskopie.
uni:view: Herr Reipert, was sagen Sie als Experte für Elektronenmikroskopie zur Nobelpreiszuerkennung an den gebürtigen Deutschen Joachim Frank, den Schweizer Jacques Dubochet und den Schotten Richard Henderson?
Siegfried Reipert: Es freut mich, dass drei Hauptakteure einer unglaublich komplexen methodischen Entwicklung endlich Anerkennung erfahren. Denn man muss wissen, dass die Kryo-Elektronenmikroskopie schon seit Jahren eine hervorragende Rolle bei der Aufklärung der Strukturen von Biomolekülen und makromolekularen Ensembles spielt.
uni:view: Welche Bedeutung hat die Entwicklung der Kryo-Elektronenmikroskopie für die Wissenschaft? Wo wird diese Technik angewandt?
Reipert: Die Kryo-Elektronenmikroskopie erschließt die Welt hydrierter, gefrorener Materie für strukturelle Studien hoher mikroskopischer Auflösung. Der Nobelpreis hebt insbesondere ihre Rolle beim Studium von Biomolekülen hervor. Doch ihre Bedeutung für die Wissenschaft ist weitreichender, weil sie darüber hinaus auch zur Aufklärung komplexerer Strukturen, wie beispielsweise Pathogenen und Zellorganellen beiträgt. Ausgangspunkt jeder Kryo-Elektronenmikroskopie ist die blitzschnelle Immobilisierung der hydrierten bzw. lebenden Probe mittels spezieller Einfriertechniken. Das heißt Probenpräparationen unter Verwendung von Chemikalien entfallen und der eingefrorene, native Zustand der Probe wird somit zum direkten Untersuchungsgegenstand im Elektronenmikroskop. Das Studium derartiger kristallfreier (vitrifizierter) Proben im gefrorenen Zustand verleiht allen Bereichen der Lebenswissenschaften neue Impulse. Es schließt sowohl die Grundlagenforschung als auch die angewandte Forschung ein.
uni:view: Was bedeutet die Vergabe des Nobelpreises für Ihr Forschungsfeld?
Reipert: Die Entscheidung des Nobelpreiskomittees macht die Elektronenmikroskopie weithin als äußerst dynamisches Forschungsfeld sichtbar. Ähnliche Aufmerksamkeit wurde der Elektronenmikroskopie bereits 1986 zuteil, als Ernst Ruska den Nobelpreis für die Erfindung des Elektronenmikroskops mit unglaublicher Verspätung verliehen bekam. Kombiniert mit Fortschritten in der Informationsverarbeitung bringt die heutige Elektronenmikroskopie faszinierende methodische Neuentwicklungen hervor. Wenn die Vergabe des Nobelpreises dazu stimuliert, bei diesen Entwicklungen aufzuschließen, mutige Investitionen zu treffen und methodische Entwicklungen in unserem Forschungsfeld zu fördern, würde mich das freuen.
uni:view: Arbeiten Sie selbst auch mit dieser Technik bzw. welche Rolle könnte die Technik für Ihre eigene Forschungsarbeit an der Core Facility für Cell Imaging und Ultrastrukturforschung spielen?
Reipert: Meine Forschung befasst sich mit Zellen und Geweben. Der ganzheitliche Blick auf diese Proben benötigt nach wie vor die chemischen Probenpräparationen. Meine Aufgabe sehe ich darin, Artefakte durch Weiterentwicklung der Kryo-Präparation zu minimieren. Ich bediene mich also ebensolcher Einfriertechniken wie sie die Kryo-Elektronenmikroskopie benötigt. Doch die Proben werden letztendlich dehydriert und in Kunstharz eingebettet. Für die Evaluierung des Ergebnisses reicht ein gewöhnliches Transmissionselektronenmikroskop. Diese ganzheitliche Betrachtungsweise fördert noch immer zelluläre Strukturen zutage, die jahrzehntelang übersehen wurden. Sobald sie die Wahrnehmungsschwelle der MolekularbiologInnen überschritten haben, werden sie ihren Weg in ein Kryo-Elektronenmikroskop finden.
uni:view: Was bleibt – trotz Nobelpreis – in dem Forschungsfeld der Mikroskopie noch zu tun?
Reipert: Die Kryo-Elektronenmikroskopie ist ein hochspezialisiertes, hochauflösendes Abbildunsverfahren. Es macht andere mikroskopische Disziplinen keinesfalls arbeitslos. Denken wir beispielsweise an das "Life Cell Imaging" dynamischer Prozesse im Lichtmikroskop: Ein Kryo-Elektronenmikroskop kann keine Prozesse aufzeichnen; es verwendet vitrifizierte, d.h. kristallfrei eingefrorene, Proben. Die Herausforderung besteht daher in der zeitlichen und räumlichen Korrelation der Beobachtungsergebnisse beider Methoden. Die Zukunft wird meiner Überzeugung nach ein viel stärkeres Zusammenspiel verschiedenster mikroskopischer Techniken sehen. Was die Kryo-Elektronenmikroskopie betrifft, so werden weitere Anstrengungen von Nöten sein, um sie für die ganzheitlichen Betrachtungen von Zellen und Geweben zu erschließen.
uni:view: Vielen Dank für das Interview! (red)
Zur Person: Siegfried Reipert ist Assistenzprofessor an der Core Facility Cell Imaging and Ultrastructure Research (CIUS) der Universität Wien und Experte für Kryopräparation. Seit über zehn Jahren bietet die Core Facility CIUS an der Fakultät für Lebenswissenschaften neben modernstem Equipment auch Beratung und Lehre an, um Zellstrukturen bis ins Details zu erforschen. Neben fortschrittlicher Video-, Licht- und Elektronenmikroskopie kommen hier Atom-Element-Analysen sowie Fotografie und wissenschaftliche Videographie zur Dokumentation biologischer Themen zum Einsatz. (Foto: privat)