Buchtipp des Monats von Sybille Steinbacher

Die Zeithistorikerin Sybille Steinbacher untersucht Diktaturen, Gewalt und Völkermord. Wir haben sie zu ihrer aktuellen Publikation interviewt – und verlosen ein Buchpaket zum Thema.

uni:view: Wem empfehlen Sie besonders den von Ihnen und Birthe Kundrus herausgegebenen Sammelband "Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Der Nationalsozialismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts" zu lesen und warum?
Sybille Steinbacher: Wer sich anhand ausgewählter Themen über die Vor- und die Wirkungsgeschichte der NS-Zeit im 20. Jahrhundert informieren will, findet darauf Antworten in unserem Aufsatzband. Ich habe ihn gemeinsam mit meiner Kollegin Birthe Kundrus, Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Hamburg, in der Reihe "Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus" herausgegeben. Es geht darin um den doppelten Blick auf das "Dritte Reich": den zurück auf die Jahrzehnte vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten und denjenigen auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ziel des Bandes ist es, einen Beitrag zur Debatte über den historischen Ort des Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert zu leisten. Die Texte sind allgemeinverständlich geschrieben, sie richten sich an ein breites Publikum, das heißt an FachkollegInnen ebenso wie an die interessierte Öffentlichkeit.

uni:view: Können Sie den Inhalt der Publikation in drei Sätzen beschreiben?

Steinbacher: Es gibt in der Zeitgeschichtsforschung eine Fülle an neuen und alten Deutungen zur Frage, welche Zäsuren der Nationalsozialismus setzte bzw. an welche Bestände er anknüpfte. Im Band wird hierzu eine breite Palette an Themenfeldern behandelt, darunter die Geschichte des Konsums, der Psychoanalyse, der Individualität, der Finanz- und Wirtschaftspolitik, des kolonialen Rassismus und dessen Bezüge zum NS-Antisemitismus sowie die Rolle ehemaliger Nationalsozialisten im Parteiapparat der DDR. Beleuchtet werden personelle, strukturelle und ideelle Kontinuitäten und Diskontinuitäten; zum Beispiel ist zu erfahren, aus welchen Wissensreservoiren NS-Politik und NS-Gesellschaft sich bedienten und wie Deutungen der NS-Vergangenheit nach 1945 in West- und Ost-Deutschland politisch und sozial wirkmächtig wurden.

uni:view: Was war für Sie selbst als Herausgeberin des Sammelbandes die überraschendste neue Perspektive?
Steinbacher: Überraschend war in methodisch-konzeptioneller Hinsicht das Nachdenken über historische Kontinuität. Denn der Begriff wird in der Historiographie zwar reichlich verwendet, blieb aber auffallend unreflektiert. Dies vermutlich weil er als selbsterklärend gilt, wobei allerdings kaum Übereinstimmung darüber besteht, was er genau meint. Wir spüren in unserer Einleitung den verschiedenen Auffassungen nach und skizzieren die Kontinuitätsdebatten zur NS-Zeit, die in den letzten Jahren stattfanden, darunter beispielsweise die Auseinandersetzung darüber, ob die nationalsozialistische Massengewalt Vorläufer in den deutschen Kolonien hatte, es also einen Traditionsstrang zwischen den Kolonialkriegen und dem nationalsozialistischen Völkermord gab. Dieser Blick ist neu, denn Überlegungen zum anhaltenden Wandel und zu geschaffenen Traditionen fanden bislang noch kaum Eingang in die NS-Forschung. Interessant ist es dabei beispielsweise auch, vom pragmatischen Umgang der deutschen "arischen" Bevölkerung mit dem NS-Staat zu erfahren, die ihre Sehnsucht ganz auf individuelles Glück durch Konsum, Karriere und Privatheit richtete. Solche Lebensentwürfe konnten auch nach Kriegsende, zumal während des westdeutschen Wirtschaftsbooms problemlos wieder eingefordert werden, so dass in erfahrungsgeschichtlicher Hinsicht Bruch und Kontinuität eng beieinander lagen.

Noch ein weiteres: Auf dem Umschlag unseres Bandes ist ein SA-Mann aus Filz abgebildet, eine Spielzeugpuppe, die den rechten Arm zum Hitlergruß reckt. Die Margarete Steiff GmbH stellte diese Puppen 1933 und 1934 her – Schlägertypen fürs Kinderzimmer, wenn man so will. Die Geschichte der Filzpuppe erzählt einiges über die kulturelle und die konsumpolitische Zäsur, die der Nationalsozialismus setzte.


GEWINNSPIEL:
Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung.

1 x "Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Der Nationalsozialismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts", herausgegeben von Birthe Kundrus und Sybille Steinbacher.
1 x "Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft" von Otto Dov Kulka.



uni:view:
Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?

Steinbacher:
Ich empfehle das Buch von Otto Dov Kulka "Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft". Kulka, der wichtige Werke zur Holocausthistoriographie geschrieben hat, ist ein Überlebender des nationalsozialistischen Massenmords. Im Alter von zehn Jahren wurde er aus seiner böhmisch-mährischen Heimat zusammen mit seiner Mutter zunächst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Über seine persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen hat Kulka lange geschwiegen. Dann schrieb er auf der Basis von Tonbandaufnahmen und Tagebuchaufzeichnungen, die er über die Jahrzehnte hinweg gemacht hatte, dieses Buch. Es erschien im Frühjahr 2013 und wurde inzwischen bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Geschwister Scholl Preis des Börsenvereins des deutschen Buchhandels und der Stadt München.

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesen Buch einfallen
Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?

Steinbacher: Ich habe mich in meinen Forschungen viel mit Auschwitz beschäftigt und kenne eine Reihe von Schilderungen darüber. Kulkas Buch gehört zu den herausragenden. Warum? Es beeindruckt mich tief durch die Klarheit und Kargheit der Sprache und den besonderen Erzählduktus. Kulka erinnert das Geschehen aus der Perspektive des Kindes und verbindet seine Eindrücke mit den Reflexionen des Erwachsenen und des Historikers. Er vermittelt dem Leser dabei jenes Gefühl der Verlassenheit, das wohl nur kennt, wer die NS-Vernichtungslager überlebt hat.

Univ.-Prof. Dr. Sybille Steinbacher ist stellvertretende Vorständin des Instituts für Zeitgeschichte. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Untersuchung von Diktaturen, Gewalt und Völkermord.